„EvidenzUpdate“-Podcast

Was tun gegen die „braune Tüte“ bei Herzinsuffizienz?

Nicht selten erhalten Menschen mit Herzinsuffizienz im Krankenhaus eine breite Entlassmedikation. Ein „EvidenzUpdate“ über maximal dosierte Polypharmazie, die Gründe und Gegenmittel.

Prof. Dr. med. Martin SchererVon Prof. Dr. med. Martin Scherer und Denis NößlerDenis Nößler Veröffentlicht:
EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

© [M] sth | Scherer: Tabea Marten

Gleich drei oder gar vier Arzneimittel und das sogar möglichst rasch in der Maximaldosierung – das erleben niedergelassene Ärztinnen und Ärzte immer häufiger bei Menschen, die wegen Herzinsuffizienz stationär behandelt werden mussten. Bei der Entlassung haben sie dann eine breite Palette an neuen Medikamenten erhalten.

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Die Folge ist nicht nur eine satte Polypharmazie bei Menschen, die oftmals ohnehin schon regelmäßig Arzneien einnehmen. Hausärztinnen und Hausärzte berichten zunehmend auch von Patienten, die unter der Medikation hypoton oder gar kollaptisch werden.

In dieser Episode vom „EvidenzUpdate“ schauen wir deshalb auf die Gründe, warum in der Kardiologie so vorgegangen wird. Wir schauen in eine neue Studienauswertung, die auf den ersten Blick Evidenz für die rasche Titration liefert. Und wir überlegen, was in der Praxis getan werden kann. (Dauer: 27:30 Minuten)

Anregungen? Kritik? Wünsche?

Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com

Quellen

  1. McDonagh TA, Metra M, Adamo M, et al. 2021 ESC Guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failureDeveloped by the Task Force for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure of the European Society of Cardiology (ESC) With the special contribution of the Heart Failure Association (HFA) of the ESC. Eur Heart J 2021;42:ehab368. doi:10.1093/eurheartj/ehab368
  2. Mebazaa A, Davison B, Chioncel O, et al. Safety, tolerability and efficacy of up-titration of guideline-directed medical therapies for acute heart failure (STRONG-HF): a multinational, open-label, randomised, trial. Lancet 2022;400:1938–52. doi:10.1016/s0140-6736(22)02076-1

Transkript

Nößler: Sollte man einen neuen Cocktail gleich deswegen bestellen, weil er auf der neuen Getränkekarte ganz oben angepriesen wird? Oder sollte man vielleicht lieber zum Bewährten greifen? Und gibt es eigentlich gute und schlechte Getränkekarten? Darüber – jedenfalls übertragen – sprechen wir heute. Damit herzlich willkommen zur ersten Episode vom EvidenzUpdate-Podcast im Jahr 2023. Wir, das sind ...

Scherer: Martin Scherer.

Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier auch am Mikrofon ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin, Herr Scherer!

Scherer: Hallo, Herr Nößler! Gutes Neues!

Nößler: Ihnen auch. Darf man es eigentlich noch sagen?

Scherer: Ich glaube schon. Ich weiß nicht, ob es da Standards gibt oder Guidelines. Aber ich dachte immer so bis Mitte des Monats.

Nößler: Mitte des Monats dachte ich auch. Dann auch gutes Neues, Herr Scherer an alle Hörerinnen und Hörer.

Scherer: Das machen wir sehr gerne, hoffentlich in globaler Hinsicht ein besseres 2023 und alles Gute denen, die uns hier auch regelmäßig zuhören, und den anderen natürlich auch.

Nößler: Also allen ein besseres 2023. Herr Scherer, wir haben uns vorgenommen, ein bisschen klinisch ins Jahr zu starten. Wir wollen über Herzinsuffizienz sprechen, über Medikamentencocktails, natürlich in der Indikation, und über Interessenkonflikte. Und manche ahnen vielleicht schon, woher der Wind weht. Herr Scherer, machen wir es mal ganz korrekt, fangen wir mal mit Ihren Interessenkonflikten an.

Scherer: Ich kriege kein Geld von irgendeiner Pharmafirma, ich verdiene mit der Herzinsuffizienz an sich überhaupt gar kein Geld. Mein letzter IHF-Vortrag zur Herzinsuffizienz liegt schon ein bisschen länger zurück. Da kann es sein, dass es dann mal für so eine Fortbildung ein paar Euro gibt, ansonsten verdiene ich damit nichts. Ich habe mein Gehalt am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, ich kriege ein bisschen was als DEGAM-Präsident. Und so ist es. Natürlich habe ich einen immateriellen Interessenskonflikt – oder sagen wir mal, immaterielle Interessen, und ich habe ja mal zu dem Thema habilitiert.

Nößler: Aber macht dieser Konflikt etwas mit Ihnen? Also hat das irgendeine negative Auswirkung?

Scherer: Sagen wir mal so, die Schule, aus der ich komme, ist sehr versorgungsforschungsbezogen. Und wir gucken uns Innovationen natürlich unter Versorgungsbedingungen an. Das wird heute auch relevant werden, wenn da jetzt ein toller strahlender RCT im JAMA kommt, eine Efficacy-Studie, dann werde ich immer fragen, wie sieht es denn mit der Effectiveness aus. Efficacy ist das eine, Effectiveness unter Alltagsbedingungen ist das andere. Und wenn man jetzt natürlich sich Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz in der primärärztlichen Versorgungsforschung angeschaut hat, wo sind die Versorgungsproblem, wie steht es mit der Leitlinie und Adhärenz, mit der frühen Diagnostik, mit der Umsetzung nichtmedikamentöser Therapiemaßnahmen, mit Medikamentenwechseln an der ambulant-stationären Schnittstelle, dann hat man natürlich eine stark versorgungsbezogene Brille und sieht die strahlenden Innovationen erst mal kritisch oder zumindest mit einem Fragezeichen versehen.

Nößler: Das heißt, durch die Angabe dieses Interessenkonflikts weiß man, okay, der Scherer hat ein Bias, einen gewissen, den bringt er mit, weil er die Welt aus einer gewissen Sicht wahrnimmt. Insofern haben Sie uns allen jetzt geholfen, dass wir ein bisschen ahnen können, wohin die Reise geht.

Scherer: Das habe ich gern gemacht.

Nößler: Es ist ja Gold-Standard, dass wir das offenlegen. Und ich kann sagen, JAMA haben wir nicht, Herr Scherer, aber Lancet, kommen wir gleich zu. Warum reden wir über Interessenkonflikte? Wenn wir uns mit kardiologischen Themen, heute Herzinsuffizienz, beschäftigen, dann sind wir in der Welt der kardiologischen Leitlinien unter anderem. ESC ist dann so ein Begriff, in den USA ist es die HA. Und beiden Fachgesellschaften – das weiß jede oder jeder, der und die uns zuhört – wird ja eine gewisse Industrienähe attestiert. Jetzt mal vielleicht ein bisschen naiv gefragt: Was ist denn eigentlich an dieser Industrienähe so schlimm? Nun ist es ja die Industrie, die das alles erforscht, entwickelt, in die Versorgung bringt. Jetzt könnte man ja einfach sagen, es ist doch ganz gut, wenn ich mit denen zusammenarbeite, ich muss ja irgendwie das in die Klinik hineinbringen.

Scherer: Das Problem daran ist, dass Sekundärinteressen Eingang in die Versorgung finden. Sekundärinteressen sind beispielsweise ökonomische Interessen. Das primäre Interesse sollte sein, der Patientin und dem Patienten zu helfen. Sekundärinteressen sind nicht verwerflich oder moralisch anzufechten, aber sie sollten nicht unbedingt Eingang in die Versorgung finden, auch nicht Eingang in die Fortbildung finden und auch aus Leitlinien rausgehalten werden. Also es ist völlig legitim, dass die forschende Pharmaindustrie und die entwickelnde Pharmaindustrie dann am Ende auch Geld verdienen möchte, das muss auch so sein. Aber die Sekundärinteressen müssen draußenbleiben aus der Alltagsversorgung.

Nößler: Das funktioniert in der Kardiologie nicht so gut. Wenn man da sich die Interessenkonfliktlisten am Ende anschaut, die sind doch recht umfangreich.

Scherer: Die sind umfangreich. Und gerade auch die Leitlinien, die man sich so anschaut. Und das müssen nicht wir machen, das macht Leitlinienwatch, die leuchten dann rot auf.

Nößler: Ziemlich. Herr Scherer, Sie sagen schon, es gibt eben diese ESC-Leitlinien eben auch zur Herzinsuffizienz. Aber es gibt ja auch andere Leitlinien. Was ist denn für Sie die Maßgebliche, nach der Sie sich klinisch orientieren, ausschließlich?

Scherer: Also bei der Herzinsuffizienz ist es die nationale Versorgungsleitlinie.

Nößler: Und da kann man natürlich direkt fragen: Warum gönnen wir uns dann noch kardiologische Leitlinie parallel dazu?

Scherer: Es gibt die European Society of Cardiology, es gibt amerikanische Fachgesellschaften. Ja, es gab schon immer ein Nebeneinanderher von Leitlinien. Das ist so. Im deutschen Kontext haben wir das weitestgehend minimiert. Und das ist auch ein Verdienst der AWMF, dass es nach Möglichkeit keine konkurrierenden Leitlinien aus demselben Sprachraum gibt zur ein und derselben Thematik.

Nößler: Das ist dann die deutsche Situation. Nur tatsächlich, kardiologisch kann man immer sagen, ja, wir Europäer, wir haben doch. Müssen wir jetzt reingucken in die entsprechende ESC-Leitlinie, die wir natürlich verlinken, Herr Scherer. Das machen wir wo?

Scherer: In den Shownotes.

Nößler: In den Shownotes. Und wir wollen uns ja der Problematik mit Polypharmazie heute so ein bisschen widmen. Und es wird doch mehr und mehr berichtet, dass hier und da Menschen mit Herzinsuffizienz aus dem Krankenhaus kommen und dann etwas breiter eingestellt sind als man das vielleicht mag oder haben will. Die Rede ist davon, dass sie hypoton teilweise sind. Herr Scherer, wenn wir mal zitieren aus der entsprechenden ESC-Leitlinie zur Versorgung bei Herzinsuffizienz, da steht drin, dass die Trias von einem ACE-Hemmer oder ANI, einem Betablocker und einem Mineralokortikoid-Antagonisten empfohlen ist als Cornerstone-Therapien für die Patienten, solange sie nicht kontraindiziert sind oder nicht vertragen werden. Würden Sie diesen Satz genauso unterschreiben?

Scherer: Das würde ich nicht, weil er mit den Empfehlungen der nationalen Versorgungsleitlinie konfligiert. Jetzt bin ich natürlich ein bisschen am Schwanken, ob Sie das jetzt im Einzelnen von mir dargelegt haben möchten. Vielleicht mal so: Die Cornerstones, um mal bei diesem Anglizismus zu bleiben, waren und sind eigentlich immer ACE-Hemmer und Betablocker. So einfach kann man es eigentlich machen. Und die ACE-Hemmer sind eigentlich immer indiziert bei NYHA 1 bis 4 und die Betarezeptorenblocker ab NYHA 2. Das ist meines Erachtens schon immer auch die Kerntherapie gewesen. Früher hat man dann gesagt, okay, ab NYHA 3, 4 kommen noch die Mineralocorticoid-Antagonisten dazu, Spironalacton oder Eplerenon. Da ist man heute ein bisschen früher dabei, dass man auch sagt, ab NYHA 2 kannst du die dazugeben. Das heißt, wenn Sie sagen, die Triade von ACE-Hemmern, ANI und Betablocker, dann muss ich sagen, im Grunde genommen, ist es die Triade aus ACE-Hemmern, Betablocker und Mineralocorticoidrezeptor-Antagonisten. Soviel vielleicht erst mal dazu.

Nößler: Schauen wir mal weiter. Konfligiert ein wenig. Es gibt einen weiteren Satz, der kommt direkt dahinter in der ESC-Leitlinie. Die sollten auftitriert werden, diese Arzneimittel, zu den Dosen, die in klinischen Studien verwendet wurden oder bis hin zur maximal tolerierten Dosis, wenn man das nicht an Aussagen aus Studien orientieren kann. Würden Sie das auch so unterschreiben, das Auftirieren?

Scherer: Man muss vielleicht noch dazusagen – und da sind wir wieder am Anfang – ich würde mich da schon an die nationale Versorgungsleitlinie halten, weil das Evidenz ist, die auf mehr als eine Studie zurückgeht und dann noch der systematische Konsensprozess dazukommt. Und bei Sacubitril und Valsartan beispielsweise, bei Entresto, da haben wir eine Studie, das ist die PARADIGM-HF-Studie von 2014. Und auch für Dapagliflozin, Empagliflozin. Bei Empagliflozin haben wir die EMPEROR-Reduced-Studie von 2020, da kennen wir nicht so genau die NMT, bei Dapagliflozin ist die NMT bei 65. Also da kann man meines Erachtens über die Titration noch keine guten Aussagen machen. Da brächte man – was wir vielleicht später noch besprechen – eine Studie, die dann noch mal die Titration genauer untersucht. Also meines Erachtens ist man gut dabei. Und nicht nur meines Erachtens, auch entsprechend der nationalen Versorgungsleitlinie, Herzinsuffizienz mit ACE-Hemmer, Betablocker zu starten, dann noch Spironolacton, Eplerenon dazu, bei persistierender Symptomatik vielleicht Dapagliflozin noch dazu, aus der DAPA-HF-Study wurde das untersucht. Und bei ACE-Hemmer oder auch bei Angiotensin-Rezeptorblocker Unverträglichkeit beziehungsweise additiv zur Stabilisierung der Symptomatik kann man dann noch Entresto dazugeben.

Nößler: Da haben Sie nämlich direkt schon einen Satz, da brauche ich gar nicht mehr fragen, ob Sie da mitgehen würden, da haben Sie nämlich jetzt schon die Antwort vorweggenommen. Es gibt nämlich da noch einen Satz in dieser Leitlinie, wo drinsteht, dass ANI – also Entresto haben Sie genannt, Sacubitril und Valsartan – einem ACE-Hemmer bevorzugt werden sollen, Firstline-Therapie soll man erwägen, steht hier. Das würden Sie so nicht machen.

Scherer: Das würde ich so nicht machen und das wird auch in der nationalen Versorgungsleitlinie auch so nicht empfohlen. Und dann sind wir auch schon wieder bei den Sekundärinteressen. Ich möchte hier niemandem irgendetwas unterstellen. Aber schätzen Sie doch mal, was so ein ACE-Hemmer kostet. Nehmen wir mal eine N3-Packung Elanapril 5 mg 100 Stück, was glauben Sie, was das so kostet? Ganz grob geschätzt.

Nößler: 15, 20?

Scherer: Ja, gar nicht schlecht. Ab 12 Euro vielleicht. Die Jahrestherapie von Entresto beispielsweise liegen bei 2.000 Euro. Und die Jahrestherapiekosten von Dapagliflozin liegen bei 590 Euro. Und bitte nicht falsch verstehen, es geht jetzt hier nicht darum, eine preiswerte Medizin zu propagieren, sondern es ist so, dass wir auf der einen Seite nationale Versorgungsleitlinienempfehlungen haben, die auf eine doch sehr systematische Methodik zurückgehen mit mehr als einer Studie, mit einem systematischen Konsensprozess, mit relativ niedrigen Jahrestherapiekosten. Und dann haben wir da Substanzen mit vielleicht einer Studie, wie zum Beispiel die PARADIGM-HF-Studie und Jahrestherapiekosten von 2.000 Euro. Und das muss man natürlich entsprechend einordnen. Und meines Erachtens spricht das dann für sich auch eine klare Sprache. Und aus diesem Grunde würde ich auch das Kapitel ESC-Leitlinie an dieser Stelle gerne abschließen.

Nößler: Machen wir. Wir können ja feststellen, die einen sind vielleicht etwas innovationsfreudiger, um das mal höflich auszudrücken. Und auf der anderen Seite guckt man dann vielleicht noch etwas genauer hin, lässt sich vielleicht auch ein bisschen mehr Zeit, bis die Evidenz da ist.

Scherer: Nicht jede Neuheit ist eben eine Innovation.

Nößler: Genau.

Scherer: Eine Innovation hat ihren Nutzen belastbar unter Beweis gestellt – ihren Zusatznutzen.

Nößler: Den Zusatznutzen, genau. Da wären wir schon wieder in der regulatorischen Sprache. Und da wird am Ende auch über das Thema Geld nachgedacht, wenn man herausfindet, was kann eine neue Therapie mehr. Ich möchte auf diesen Konflikt kommen, der entsteht an der Grenze der Versorgung. Und das ist ja das, was uns auch zu dieser Episode gebracht hat, nämlich tatsächlich Berichte, dass doch gar nicht so selten Patientinnen oder Patienten, Menschen mit einer Herzinsuffizienz, die im Krankenhaus behandelt wurden, entlassen werden und dann so ein ganzes Päckchen mitgebracht bekommen und eben im Krankenhaus eingestellt werden, eben unter anderem mit einem ARNI oder gleich ganz breit und auch vielleicht hochdosiert. Und dann schlagen die in der Praxis auf. Und dann muss man damit umgehen. Würden Sie sagen, auch mit Blick auf die NVL, was Sie gerade zitiert haben, dass man dann radikal immer auch wieder absetzen sollte?

Scherer: Zumindest haben die niedergelassenen, die hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen mein vollstes Verständnis für diese doch schwierige Situation, dass sie mit Medikamentencocktails zu tun haben, die überhaupt nicht evidenzbasiert sind. Und wo das Entlassmanagement so aussieht, dass möglicherweise Medikamentenempfehlungen gemacht werden, die im Konflikt stehen mit bei uns gültigen Leitlinienempfehlungen, wie zum Beispiel der nationalen Versorgungsleitlinie und wo es dann im Entlassungsbericht heißt, in fünf bis zehn Tipps und Empfehlungen bitte die und die Laborkontrollen machen, bitte das so und so weitergeben, das und das auftitrieren, wo man dann vor diesem Brief sitzt und sagt, ja, da kann ich jetzt eigentlich nur den Kopf schütteln, das kann ich so nicht vereinbaren mit dem, was ich als für mich gültige Leitlinienempfehlung ansehe. Und das ist schon ein Problem, dass hier die industrielle Einflussnahme derartig in die Versorgung reinschlägt und an vielen Stellen das von dem Tisch fegt, wo man sagen muss, das ist eigentlich unser Behandlungsstandard, das ist die nationale Versorgungsleitlinie, so sollte es sein. Und dann sitzt man da im 1:1-Patientenkontakt und muss diesen Konflikt auflösen, natürlich im Zusammenspiel mit 5 bis 10 anderen Problemen, die die Patienten auch noch haben. Also vollstes Verständnis dafür und volle Rückendeckung dafür, die Therapie auf die Leitlinienadhärenz beziehungsweise auf das zurückzuführen, was auch in der NVL steht.

Nößler: Also wäre schon mal ein klares Votum, eher zu schauen, dass man wieder runterkommt von dem einen oder anderen.

Scherer: Genau. Wobei natürlich die Leitlinienempfehlung auch kein Selbstzweck ist. Wir reden hier über Patientinnen und Patienten, die eben mehr als diese Substanzen haben. Wir sind da sowieso schon tief drin im Bereich der Polypharmazie, die ja bekanntlich bei fünf Medikamenten beginnt. Und da ist man für jedes Medikament dankbar, was man absetzen kann.

Nößler: Und die Kommunikation – Sie haben es angedeutet – ist dann wahrscheinlich auch eine Challenge, wenn ich mir überlege, ich komme aus dem Krankenhaus raus und da hat man mir im Zweifel auch wärmsten empfohlen, dass ich das, das, das jetzt nehmen sollte, das ist gut für mich. Und auf einmal sitze ich da vor jemandem, der oder die das ganz anders mir sagt. Ist sicherlich nicht der einfachste Job.

Scherer: Nein, und das wird natürlich als Bruch empfunden an der stationär-ambulanten Schnittstelle, und das ist auch ein Bruch. Hier prallen unterschiedliche pharmakologische Philosophien aufeinander und Leittragende sind im Zweifel die Patientinnen und Patienten.

Nößler: Wir müssen noch in einen Aspekt, der mit da reingehört, reinschauen. Nämlich die Frage, die sich stellt, ist: Was führt denn alles dazu, dass da stationär so gehandelt und auch verordnet wird für die Entlassmedikation? Wenn ich das richtig zusammenfasse, ist es ja so gewesen, dass man stufenweise die Therapie eskaliert hat. Und jetzt gab es in der letzten Leitlinienänderung bei den Kardiologen, nicht nur in Europa, sondern auch in den USA, so einen kleinen Paradigmenwechseln, dass man nämlich in Erwägung zieht, relativ rasch auf die empfohlene Maximaldosis zu kommen, also binnen weniger Wochen. Und da jetzt auch schon empfohlen wird, direkt ein SGLT2-Hemmer mit in Erwägung zu ziehen. Was ist denn davon zu halten?

Scherer: Paradigmenwechsel klingt erst mal gut. Paradigmenwechsel ist häufig sinnvoll, gibt es an verschiedenen Stellen, in der Medizin, Paradigmenwechsel gab es in den 80er Jahren in der Lebensqualitätsforschung. Die ganze Lebensqualitätsforschung war ein Paradigmenwechsel. Was bedeutet das rein praktisch? Also ein stufenweises Eskalieren hat eben den Vorteil, dass es schrittweise geht und ich mir dann die patientenseitige Reaktion immer anschauen kann und sehen kann, wie das toleriert wird. Wenn ich aggressiv und schnell da reingehe, dann ist natürlich die Gefahr da, dass es nicht toleriert wird, dann muss ich genau schauen, dass ich das engmaschig monitore, ist erst mal ein höheres Risiko. Wir haben es ja in der Herzinsuffizienztherapie ohnehin zu tun mit einer gut abstufbaren Dyspnoe-Klassifikation von NYHA 1 bis 4. Das gibt es ja bei nicht vielen chronischen Erkrankungen. Und worüber wir aber noch gar nicht gesprochen haben, das sind die Diuretika, die gibt es ja auch noch. Insofern, in der Gesamtschau des Patienten mit seinen vielen Komorbiditäten und den vielen Dingen, die man beachten muss, macht es meines Erachtens auch im Kontext zur Multimorbidität Sinn, nicht mit einer vollen Ladung reinzugehen, sondern schrittweise, schrittweise das aufzubauen. Und ganz ehrlich, um die Diskussion oder das Gespräch auch nicht zu theoretisch zu machen, wir reden hier über ACE-Hemmer, wir reden über Betablocker, wir reden über Diuretika. Das sind Medikamente, die haben natürlich die Blutdruckpatientinnen und -patienten, die KHK-Patientinnen und Patienten oft ohnehin. Insofern ist das in der Versorgung oft ein organischer Prozess. Meines Erachtens gibt es überhaupt gar keinen Grund, allzu aggressiv reinzugehen.

Nößler: Jetzt könnte man zu einer Arbeit – und jetzt kommen wir zum Lancet – nämlich zu einer Publikation, die vielleicht jenen, die sagen, ach nein, das schnelle Reintun von Maximalladungen kann ich hier mit einem Piece of Evidence ganz aktuell sogar belegen, dass es nützlich sein könnte. Das ist die Strong Heart Failure Study, wo man das gezeigt haben will, dass wenn man relativ schnell auf die Maximaldosis kommt, das Risiko für Tod oder Rehospitalisierung sich verringern lässt.

Scherer: Das Tolle an dieser Studie ist, dass es eine randomisierte Studie war, die erste, die eine intensivierte Titration untersucht hat, also die geschaut hat, wie ist denn das, wenn wir innerhalb von zwei Wochen die Patientinnen und Patienten hochtitrieren auf 100 Prozent der leitliniengerechten medizinischen Dosierung. Jetzt muss man natürlich auch dazusagen, das Ziel einer Titration – erinnern Sie sich an den Chemieunterricht – ist, dass man die Stoffmengenkonzentration einer Säure oder einer Base unbekannter Konzentration bestimmt. Das macht man eigentlich unter Titration. Da hat man seine Pipette und dann tropft man Tropfen für Tropfen. Das Problem ist, es klingt so einfach mit dem Titrieren. Ambulant bedeutet das, ich verändere die Medikation, ich schreibe einen neuen Plan, ich evaluiere die Toleranz oder die Verträglichkeit aufseiten der Patientin, des Patienten und gucke, wie das funktioniert. Tritt Schwindel auf, vielleicht sogar präsynkopale Zustände, was passiert mit den Laborwerten, wie verändern sich die Retentionswerte. Und deshalb sagen ja auch die Autorinnen und Autoren der Arbeit: „titration of guideline recommended therapies under close follow up and monitoring“. Und das ist genau das Thema. Das kann man unter kontrollierten Bedingungen machen, das kann man im Krankenhaus machen, wo eine Pflegekraft dreimal täglich reingeht und Blutdruck misst. Ambulant ist es schwierig. Und hier haben wir genau wieder das Thema vom Anfang. Es handelt sich um eine Efficacy-Studie. Was man braucht, ist das Funktionieren dieser Intervention oder dieser Maßnahme unter Alltagsbedingungen, also eine Efffectiveness Study. Mit anderen Worten: Sicher wird es so sein, dass die Patientinnen und Patienten von der höchsttolerablen Dosis profitieren. Aber der Knackpunkt liegt eben genau im Herausfinden dieser Dosis, die sehr individuell ist, das ist ein Trial and Error. Und den Error, lieber Dennis Nößler, den wollen Sie ambulant nicht haben.

Nößler: Weder als Betroffener noch als Handelnder.

Scherer: Genau.

Nößler: Da sind wir ja eigentlich an dem Punkt, Herr Scherer – eigentlich am Ende –, dass wir es ja mal versuchen könnten mit einer Take-Home Message für Ihre Kolleginnen und Kollegen in der Kardiologie.

Scherer: Die Kolleginnen und Kollegen in der Kardiologie – das soll jetzt nicht oberlehrerhaft klingen – sollten sich einmal mit den Auswertungen von Leitlinienwatch befassen.

Nößler: Das verlinken wir auch in den Shownotes.

Scherer: Ansonsten ist es ein Miteinander. Wir arbeiten sehr gut zusammen. Aber natürlich sind die Interessen ein Thema und wir müssen schon achtgeben, wenn es hier eine NVL gibt, dass die nicht gebypasst wird und eine interessensgeleitete Parallelversorgung stattfindet, die mit diesen Empfehlungen völlig konfligiert.

Nößler: Gut, auch das kann man ja, Herr Scherer, so als kollegialen Tipp und ein kollegiales Schultertätscheln verstehen, nicht von oben herab. Und im Übrigen auch in der Redaktion vom Arzneimittelbrief oder Arzneitelegramme sind ja auch Kardiologinnen und Kardiologen unterwegs – so gesehen. Herr Scherer, vielen Dank für diese Einordnung, für das Erörtern eines womöglich klinisch doch recht relevanten Themas. Vielleicht war der eine oder andere Tipp dabei. Wir sind an der Stelle, dass ich Sie eigentlich fragen müsste, was wir jetzt mit der Klippe machen.

Scherer: The hanging Cliff oder Cliffhanger.

Nößler: Genau der.

Scherer: Beim Cliffhanger weiß man ja eigentlich nicht wie es ausgeht. Es gibt nur zwei Möglichkeiten für das nächste Mal, entweder ein klinisches oder ein gesundheitspolitisches Thema mit einem Bezug zur wissenschaftlichen Evidenz und zur Allgemeinmedizin beziehungsweise zur hausärztlichen Versorgung.

Nößler: Herr Scherer, der ist großartig, den legen wir uns auf Taste.

Scherer: Der passt immer, oder?

Nößler: Der passt fast immer. Super, cool. Vielen Dank an der Stelle für eine knackige, klinische Episode zum Jahresstart. Es war mir wie immer eine Freude. Und dann wünsche ich den Hörerinnen und Hörern und Ihnen alles Gute. Und ich freue mich, wenn wir uns alle wieder hören.

Scherer: Und ich freue mich aufs nächste Mal. Tschüss! Bis dahin!

Nößler: Tschüss!

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