Internisten-Kongress
Aufbruch in eine neue Ära
Molekulare Prinzipien stehen im Fokus der Inneren Medizin: Was das für Diagnostik, Therapie und die Arzt-Patienten-Beziehung bedeutet, ist ein Schwerpunkt auf dem DGIM-Kongress.
Veröffentlicht:MANNHEIM. Wollte man den am Samstag beginnenden 121. Internistenkongress in Mannheim auf zwei Schwerpunkte reduzieren, wären diese ein medizinischer und ein politischer.
Auf medizinischer Seite machen die Organisatoren um Professor Michael Hallek aus Köln klar, dass sich die Medizin in einer Phase grundlegenden Wandels befindet.
Ein Wandel mit erheblichen Auswirkungen auf die tägliche Praxis organisatorischer wie inhaltlicher Art. Ohne molekularbiologisches Grundwissen werden Ärzte bald nicht mehr auskommen.
Politisch wird der Wissenschafts- und Fortbildungskongress dann, wenn immer lauter die Industrialisierung des Gesundheitswesens kritisiert wird: Ökonomische Logik infiltriert längst in fataler Weise diagnostische und therapeutische Entscheidungen. Der Widerstand dagegen wächst.
Zunächst die fachliche Seite: Von einer neuen Ära in der Medizin, ja von "Revolution" spricht der Hämatologe und internistische Onkologe Hallek. In der Krebsmedizin hat diese Ära längst begonnen, wie auch Professor Christian Reinhardt von der Uni Köln im Interview mit der "Ärzte Zeitung" beschreibt.
Doch auch Infektionen etwa mit HIV oder Hepatitis-C-Viren können heute nur deshalb so gut bekämpft werden, weil deren molekulare Grundlagen zunehmend verstanden werden.
Es gibt tausende monogene Erbkrankheiten, die jetzt und in Zukunft charakterisiert und diagnostiziert werden können. Daraus leiten sich - hoffentlich - neue kausale Behandlungsoptionen ab.
Molekularbiologie kennt keine Organgrenzen
Berichte über den DGIM-Kongress
Medienpartner beim 121. Internistenkongress ist die "Ärzte Zeitung". Vor und während des Kongresses werden Sie aktuell über wichtige Ereignisse und Veranstaltungen informiert. Danach gibt es eine Kongress-Nachlese.
Zu den Berichten über den DGIM-Kongress
Bei vielen Krankheiten werden multiple genetische und epigenetische Änderungen festzustellen sein. Was heute noch als eine Krankheitsentität betrachtet wird, differenziert sich morgen vielleicht zu zehn Subtypen aus.
Der Trend zur Spezialisierung wird sich daher beschleunigen. Zugleich müssen die Akteure intensiver als je zuvor miteinander kommunizieren und Entscheidungen in interdisziplinären Teams treffen. Das muss organisiert werden.
Und das hat Auswirkungen auf die Weiter- und Fortbildung. Die Molekularbiologie kennt keine Organgrenzen. Gefordert sei ein Verständnis für Systembiologie und Systemmedizin, sagt Hallek. Da bestehe Nachholbedarf.
Andererseits: Wer glaubt, künftig werde nur noch Gendiagnostik betrieben, und Patienten würden in Schubladen sortiert und nach prädefiniertem Schema F behandelt, der irrt.
Es sind gerade die Protagonisten der molekularbiologisch geprägten Medizin, die darauf hinweisen, wie wichtig die Betrachtung des ganzen Menschen, wie wichtig Zuwendung und Empathie sind.
Der Freiburger Medizinethik- Professor Giovanni Maio macht darauf aufmerksam, dass jede einzelne Patientengeschichte komplex und demzufolge so in keinem Lehrbuch, in keiner Studie zu finden sei.
Gefordert sei stets die singuläre Entscheidung auf der Basis einer individuellen Anamnese. Es fragt sich, ob der heutige Rahmen, innerhalb dessen diese neue Medizin praktiziert werden soll, tatsächlich der Geeignete ist.
Denn das gegenwärtige System des Geldflusses im Gesundheitswesen behindert geradezu, gute Entscheidungen zugunsten von Patienten zu treffen.
Bedürfnisse wieder in Mittelpunkt stellen
Belohnt wird, wer viel macht. Bestraft wird, wer versucht, auf der Grundlage von Anamnese, diagnostischen Fakten und Patientenbedürfnissen angemessene Entscheidungen zu treffen - oder auch einmal nichts zu tun!
Die Steigerung von Erlösen ist das erklärte Ziel von Krankenhaus-Geschäftsführern. Auch der niedergelassene Kassenarzt muss sich, gelinde gesagt, Gedanken um Effizienz machen.
Diagnostik und Behandlung kranker Menschen sind in einem Maße prozeduralisiert worden, dass Medizinethiker Maio von der "Logik einer industriellen Produktion" spricht.
Nebenbei: Ob ein Gesundheitssystem als Produktionsanstalt tatsächlich ökonomisch sinnvoll ist, darf bezweifelt werden, schaut man sich die Zahl invasiver Eingriffe in manchen Fachrichtungen an.
Wenn Maio nun also eingeladen ist, in einem der drei Plenarvorträge des Internistenkongresses über "Die ärztliche Kunst des Unterlassens" zu sprechen, wäre es ein Missverständnis zu glauben, dort werde der Rationierung das Wort geredet oder es gehe darum, den Zuhörern wegen verbreiteter Überdiagnostik und Übertherapie ins Gewissen zu reden.
Nein, es geht um viel mehr. Wer Maios Publikationen kennt, muss sie als Aufruf zum Widerstand gegen die industrialisierte Medizin begreifen.
Er fordert, statt ökonomischer Kennziffern wieder die Bedürfnisse kranker Menschen im Mittelpunkt zu stellen. Konsequenterweise muss das eine Abkehr vom gegenwärtigen Bezahlsystem bedeuten.
Wer krank ist, erwartet mit Recht, dass er allein in seinem Sinne vom Arzt beraten wird. Eben dies sei die Hauptleistung des Arztes, so Maio: die "erfahrungsgesättigte Beratung" auf der Grundlage einer komplexen Krankengeschichte.
Eine Leistung, die nicht vollständig formalisierbar ist, die nicht allein molekularbiologisch oder diagnostisch-technisch begründet, die nicht "gezählt" werden kann.
Auch darum wird es in Mannheim gehen müssen - um nicht weniger als die Definition ärztlicher Ethik in der neuen Medizin.