Studie zur GKV für Alle
Bürgerversicherung: Eine solidarische Alternative?
Im Wahlkampf wird der Oldie zum Leben erweckt: die Bürgerversicherung als vermeintlich solidarische Alternative zur aktuellen GKV. Hält diese These einer Nachprüfung stand? Forscher des Instituts der deutschen Wirtschaft sind dem nachgegangen.
Veröffentlicht:Berlin/Köln. Im Bundestagswahlkampf wird diese Karte wieder gespielt: die Option einer Bürgerversicherung. Gerechter würde es nach den Befürwortern einer solchen Großreform zugehen, solidarischer. Doch stimmt das? Wissenschaftler des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft haben nachgerechnet und kommen in Simulationen zu einem anderen Ergebnis.
Die vorgebrachten Argumente für eine Bürgerversicherung sind vielfältig. Mal wird angeführt, das Nebeneinander von GKV und PKV widerspreche dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Ein anderes Mal wird moniert, das geltende Beitragssatz in der GKV bilde die finanzielle Leistungsfähigkeit der Versicherten nur eingeschränkt ab. Besserverdienende PKV-Versicherte könnten sich der Finanzierung solidarischer Aufgaben zu ihrem Vorteil entziehen.
Im Umkehrschluss wird dann nahegelegt, das Solidaritätsprinzip in der GKV könne durch eine Ausweitung der Versicherungspflicht auf die gesamte Bevölkerung gestärkt werden. Im politischen Diskurs wird der Solidaritätsbegriff vielfach synonym mit dem der sozialen Gerechtigkeit angeführt.
Vermessung des Solidarprinzips
Martin Beznoska, Jochen Pimpertz und Maximilian Stockhausen vom IW nehmen in ihrer Analyse eine „Vermessung des Solidaritätsprinzips“ in der GKV vor, bei dem die Umverteilung als ökonomisches Abgrenzungskriterium herangezogen wird: Bekanntlich werden GKV-Versicherte sowohl im Leistungs- wie im Beitragsrecht ohne Ansehen individueller Risikomerkmale gleichbehandelt. Die Finanzierung der GKV erfolgt somit nicht über risikoabhängige Prämien, sondern über einen für alle Mitglieder gleichen Prozentsatz vom beitragspflichtigen Einkommen.
Die IW-Forscher haben mit Hilfe einer empirischen Simulation ermittelt, wie hoch der Anteil der GKV-Leistungsausgaben ist, der über solidarische Umverteilungen finanziert wird und wie sich dieser Anteil durch eine Erweiterung der GKV zu einer Bürgerversicherung verändern würde. Dabei ist zu unterscheiden zwischen „guten“ Risiken – Versicherte, deren GKV-Beiträge die altersdurchschnittlichen Leistungsausgaben übertreffen – und „schlechten“ Risiken, also Nettoempfängern eines Solidarnutzens.
Als Datengrundlage hat das IW das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) verwendet. In dieser Datenbank sind Informationen zu Alter, Geschlecht und Krankenversicherungsstatus von 35.000 Personen genauso hinterlegt wie Daten zu deren Einkommen und zur Beschäftigungssituation.
Gute und schlechte Risiken
Ausgehend von Daten des Jahres 2018 haben die IW-Forscher zunächst ein Status-quo-Szenario berechnet. Danach können 39,1 Prozent der GKV-Versicherten als „gute“ Risiken gelten. Sie haben also höhere Beiträge im Vergleich zu ihren alters- und geschlechtsspezifischen Durchschnittsausgaben entrichtet.
Diesen Nettozahlern des Systems stehen spiegelbildlich 60,9 Prozent gegenüber, die von einer solidarischen Umverteilung profitieren. Die „guten“ Risiken brachten knapp 158 von 216 Milliarden Euro an Beiträgen auf, doch auf sie entfielen nur 29 Prozent der Ausgaben.
Umgekehrt steuerten die Nettoempfänger 27 Prozent der Beitragseinnahmen bei, verursachten aber 71 Prozent der Ausgaben. Zieht man von den Beitragseinnahmen der Nettozahler die auf sie entfallenden Ausgaben ab, erhält man die Summe der anteilig gezahlten Solidarbeiträge in der GKV. Im Status-quo-Szenario waren dies 36,6 Prozent, die durch solidarische Umverteilung gedeckt wurden.
Anteil der Nettozahler steigt geringfügig
Bei einer Simulation der Ausweitung der GKV-Pflichtversicherung auf die gesamte Bevölkerung würde der Anteil der Nettozahler im System („gute Risiken“) nur um zwei Punkte auf 41 Prozent steigen. Der Beitragssatz könnte wegen der Mehreinnahmen von 15,6 auf 14,8 Prozent sinken. Legt man diesen Beitragssatz zu Grunde, dann würde aber der Anteil aller Solidarbeiträge an den Gesamtausgaben sogar sinken, und zwar von 36,6 auf 35,8 Prozent.
Ungeachtet vielfacher Behauptungen im politischen Diskurs würde das Solidarprinzip durch eine Bürgerversicherung somit nicht gestärkt. Es käme zwar zu einer veränderten Lastenverteilung innerhalb des – dann größeren – Versichertenkollektivs. Doch der Anteil solidarisch finanzierter Ausgaben würde nicht erhöht.
Die Jüngeren müssen für Solidarität zahlen
Hinzu kommt, dass sich diese Einmaleffekte im Zeitverlauf dynamisch verändern: Denn steigende Lebenserwartung und dauerhaft niedrige Geburtenraten verändern die Altersstruktur der Versichertengemeinschaft über die Zeit – auch in einer Bürgerversicherung. Solidarische Umverteilung lässt sich in einem alternden Kollektiv „dauerhaft nur zu Lasten der jeweils jüngeren Kohorten umsetzen“, erinnern die IW-Autoren.
Eine Bürgerversicherung, so eine Quintessenz des Instituts, verfestigt Fehlanreize im System, anstatt sie zu korrigieren. Das Solidaritätsprinzip, das zur Begründung einer Bürgerversicherung oft herangezogen wird, gerate dann selbst unter Rechtfertigungsdruck, heißt es.