Pandemiegremium
Corona-Strategie: Wissenschaftler sehen Luft nach oben
Wissenschaftler bejahen Vorteile einer Adjustierung der Impfstrategie in Richtung sozialer Brennpunkte. Im Pandemiegremium des Bundestags vorgestellte Berechnungen zeigen zudem: 0,2 Punkte beim R-Wert können Monate an Alltagseinschränkungen bedeuten.
Veröffentlicht:Berlin. Schlechte Arbeitsbedingungen in Verbindung mit schwachen Haushaltseinkommen, großen Familien in beengten Wohnsituationen und geringer Bildung fördern das Infektionsgeschehen. Darauf haben Fachleute bei einer Anhörung im „Corona-Pandemiegremium“ des Gesundheitsausschusses hingewiesen.
„Es gibt überzeugende Hinweise darauf, dass die Übertragung des Virus auch von der Arbeit, den Lebensbedingungen und der Bildung abhängt, ganz konkret vom sozioökonomischen Status der Betroffenen“, sagte Professorin Eva Grill, Epidemiologin am Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie der der Ludwig-Maximilians-Universität in München am Donnerstag bei der zweiten Sitzung des Unterausschusses. Je ärmer eine Familie sei, und je mehr Personen beengt zusammenwohnten, desto stärker steige das Übertragungsrisiko.
Risiko Bau, Fabrik, Reinigung
Es gebe zudem eine begrenzte Evidenz dafür, dass die Infektionsrisiken für Beschäftigte im Baugewerbe, in der Produktion und in der Gebäudereinigung höher seien als in anderen Branchen. Unklar bleibe aber immer, welcher Anteil des Risikos der Arbeit, welcher den Wohnverhältnissen und welcher dem Arbeitsweg an sich zugerechnet werden müsse, sagte Grill.
Das interdisziplinäre Pandemiegremium unter der Leitung des CDU-Gesundheitspolitikers Rudolf Henke hat die Koalition eingerichtet, um die Effektivität der Corona-Schutzmaßnahmen zu evaluieren. Am Donnerstag stand eine Expertenanhörung unter anderem zur Impfstrategie der Regierung auf dem Programm. Auch in der Ärzteschaft sind Zweifel laut geworden, ob nicht zusätzlich zur bestehenden Impfpriorisierung weitere Akzente gesetzt werden müssten.
Großveranstaltungsverbot wirkt
Die Evidenz für die Wirksamkeit kontaktreduzierender Maßnahmen wachse, sei aber aus methodischen Gründen immer noch nicht gut belastbar, berichtete Professor Gérard Krause vom Helmholtzzentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. Als Einzelmaßnahme habe wahrscheinlich das Verbot von Großveranstaltungen den größten Effekt, in etwa so viel, wie alle anderen Maßnahmen zusammen. Krause kritisierte, dass es im Infektionsschutzgesetz keine Regelung gebe, die dafür notwendigen Daten zu erheben.
Neue Impfdebatte entbrannt
Bürger aus Sozialbrennpunkten priorisiert impfen?
Einen Beitrag zur Evaluation der Corona-Schutzmaßnahmen steuert das Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstelematik der Technischen Universität Berlin bei. Dort hat Professor Kai Nagel Effekte einzelner Infektionsorte, aber auch der Schutzmaßnahmen auf den R-Wert berechnet. 0,5 Punkte des R-Werts steuern demnach die Häuslichkeit bei, weitere 0,5 Punkte die Freizeitaktivitäten. Arbeit und Schulen sind mit je 0,2 Punkten dabei. Der ÖPNV schlägt mit einem Wert von nur 0,03 zu Buche, was Kai Nagel auf die Maskenpflicht zurückführt.
Seine Gegenrechnung zeigt, dass die Ausgangssperren ab 22 Uhr den R-Wert in etwa um 0,1 entlastet haben. Dazu kämen Schnelltests sowie die aufwachsenden Zahlen von Geimpften und Genesenen, mit denen sich der R-Wert auf knapp unter den Wert eins habe drücken lassen.
Wie hart soll der Lockdown sein?
Nagel begründete seine Einschätzung mit dem stärkeren Effekt auf den R-Wert. Den hatte auch Dr. Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation bei ihrem Statement im Blick. Es bedeute für die Eindämmung des Infektionsgeschehens einen großen Unterschied, ob man einen harten Lockdown beschließe oder wie derzeit nur die „minimal notwendigen Einschränkungen“, um die Intensivstationen nicht zu überlasten.
Schaffe man es, mit einer harten Maßnahme den R-Wert auf 0,7 zu senken, senke man damit binnen drei Wochen die Inzidenz „in einen nachhaltig stabilen Bereich“ ab. Mit einem R-Wert von 0,9 dauere es drei Monate bis dorthin. Priesemann forderte zudem Bevölkerungsstudien. „Querschnittsstudien würden extrem helfen, um Testergebnisse zu den beobachteten Inzidenzen ins Verhältnis zu setzen“, sagte die Wissenschaftlerin.
Impfstrategie anpassen?
Auf Nachfrage der SPD-Abgeordneten Yasmin Fahimi sagte Eva Grill, dass die Quartiere bewusst in die Impfstrategien von Bund und Ländern einbezogen werden sollten. Wichtig seien aufsuchende Angebote durch mobile Impfteams. „Da weiß man schon ganz viel aus der sozialen Quartiers- und Gesundheitsarbeit“, betonte Grill. Um die Menschen zu gewinnen, sei auch der Einfluss von Peers nötig.
Unterstützung erhielt die Wissenschaftlerin von Professor Kai Nagel. „Es sei unzweifelhaft, dass es der Gesamtdynamik helfe, wenn man Leute mit vielen Kontakten zuerst impfe, als wenn man nach anderen Kriterien vorgehe, sagte Nagel auf eine Frage des CDU-Abgeordneten Markus Weinberg. Und das seien nicht die älteren Menschen. Umgekehrt liege dort aber das höhere Risiko für stationäre Aufnahmen.