Gesundheitskompetenz

Deutsches Defizit

Diabetes-Prävention, Strategien gegen Polypharmazie, digitale Versorgungsangebote: Neue Initiativen gibt es in der Versorgungslandschaft zuhauf. Damit sie wahrgenommen werden, müssen auch die Patienten davon wissen. Doch dabei hapert es gehörig.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Deutsches Defizit

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Sie nehmen verordnete Medikamente nicht ein oder lutschen Zäpfchen wie Tabletten, halten Hochdruck nur für eine Wetterlage und wissen längst nicht mehr, was Oma noch wusste: dass Wadenwickel Fieber senken. Die Gesundheitskompetenz – auch Health Literacy genannt – der Deutschen ist schlecht. Und sie wird immer schlechter. Das belegen Studien.

Aber wer immer im Versorgungssystem fordert, dass die Patienten sich besser auskennen sollten in Gesundheitsfragen, der muss auch selber mitspielen – also mit dafür sorgen, dass Gesundheitsinformationen verständlich und verfügbar sind. Und daran hapert es ebenso wie an der Health Literacy selbst.

Professor Doris Schaeffer, Gesundheitswissenschaftlerin an der Universität Bielefeld und Projektleiterin des Aktionsplans Health Literacy in Deutschland, sagt: "Eigentlich brauchen wir eine robuste und transparente Versorgungslandschaft. Aber wir haben das Gegenteil, eine Versorgungslandschaft, die sich immer weiter differenziert und immer schwieriger zu durchschauen ist." Die Folge: Viele Initiativen wie das Shared Decision Making oder die Digitalisierung laufen ins Leere, weil die Adressaten mit den Angeboten nicht umgehen können.

Die Hälfte versteht nur Bahnhof

"Wir haben festgestellt, dass in Deutschland 54,3 Prozent der Bevölkerung eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz hat", zitiert Schaeffer eine Studie ihres Hauses. Fast die Hälfte der Deutschen fände es etwa schwierig zu beurteilen, wann sie eine zweite Meinung von einem anderen Arzt einholen sollten. "Dabei sind einige kleine Gruppen besonders eingeschränkt: chronisch Kranke, Migranten, Alte oder Menschen mit geringer Bildung", so Schaeffer.

Und selbst wenn Patienteninformationen gut gemacht sind, scheitern sie an einem ganz anderen Problem: Denn auch die Lese-Rechtschreib-Kompetenz in der Bevölkerung sinke, sagt etwa Professor Marie-Luise Dierks, Gesundheitswissenschaftlerin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Etwa 15 Prozent der Deutschen, erklärt sie, seien funktionale Analphabeten. "Da kommen schriftliche Gesundheitsinformationen gar nicht an."

"Viele Menschen kennen zudem ihre Rechte nicht", ergänzt Dierks. Dass sie etwa ein Recht haben auf ärztliche Schweigepflicht, auf Einsicht in die Krankenunterlagen oder auf Behandlungsabbruch, wissen in Deutschland 19 bis 25 Prozent der Patienten nicht. Und dies habe sich zwischen 2010 und 2015 kaum geändert.

Mit häufigen Krankheiten und Symptomen – und sei es auch nur Fieber – umzugehen, wird selbst für gut Gebildete offenbar immer schwieriger. Der Stada Gesundheitsreport 2015 ermittelte etwa, dass nur 59 Prozent der Bevölkerung wissen, was LSF 30 auf der Sonnenmilchflasche bedeutet. Dass der Ruhepuls idealerweise bei 60 bis 80 Schlägen in der Minute liegt, wussten immerhin 76 Prozent der Befragten.

Es ist müßig, von Patienten mehr Know-how zu fordern, wenn man es nicht in konsumierbarer Form und Menge zur Verfügung stellt. Auf die Defizite zu verweisen und ansonsten abzuwarten, dürfte der falsche Weg sein. In Krankenhäusern und Praxen muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass viele Patienten nur eine geringe Gesundheitskompetenz haben. Das würde auch in der Therapie helfen.

Dierks etwa verweist auf das in den USA gebräuchliche "Ask-me-three-Poster". Die drei Fragen, die Patienten ihren Ärzten stellen sollten, lauten demnach: "Was ist mein Hauptproblem? Was muss ich tun? Warum ist es für mich wichtig, das zu tun?" Doch warum sollte man solch einen Leitfaden nicht auch in deutschen Praxen und Kliniken aufhängen?

Komplizierte Zusammenhänge verlangen Redundanz

Apropos Patientengespräch. Manchem Arzt könnte die Einsicht der Prediger helfen: Zuerst sagt man, was man sagen wird, dann sagt man es, und dann sagt man, was man gesagt hat. Neuigkeiten und kompliziertere Zusammenhänge verlangen eben Redundanz. Jeder Arzt, der einer alten Patientin schon mal ein Inhalationsgerät erklärt hat, weiß das.

Längst wisse man, dass eine einfache Sprache, Zuhören und sich Einlassen im Patientengespräch für die Information wesentlich sind, sagt auch Dierks. "Aber kaum jemand übt im Gespräch das ,Teach Back‘. Kaum ein Arzt bittet seine Patienten also, etwa die Verordnung des Arztes einmal selbst zu wiederholen. Dabei wissen wir, wie hilfreich das wäre."

Langsam scheint die Politik erkannt zu haben, dass hier nachgefeilt werden muss. Seit Februar 2016 soll etwa der Aktionsplan Health Literacy in Deutschland weiterhelfen. Darin sollen bis Sommer 2017 Handlungsziele für mehr Gesundheitskompetenz aufgestellt werden, inklusive Forderungen an das Bildungs- und das Gesundheitsministerium. Und Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) regte jüngst ein "deutsches Gesundheitsportal", das Informationen bündeln soll, an (die "Ärzte Zeitung" berichtete in ihrer App-Ausgabe).

So könnte es besser werden mit der Gesundheitskompetenz. Wie gut, zeigt ein Blick über den großen Teich – auf die Website "whatworksforhealth.wisc.edu" des Gesundheitswissenschaftlichen Institutes der Wisconsin School of Medicine im US-Bundesstaat Wisconsin. Sie listet Informationsstrategien auf. Hier finden Kommunen oder Versorgungseinrichtungen zum Beispiel Raucherentwöhnungsprogramme, Sicherheitschecklisten in Kliniken oder Programme zum gesunden Frühstück in Schulen – inklusive Studien, Kurzangaben zur Evidenz und Schätzungen zur Reichweite und Auswirkung in der Bevölkerung. Eine Fundgrube.

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Kommentare
Thomas Georg Schätzler 16.01.201712:06 Uhr

"Health Literacy" - Wer soll das denn alles Lesen und Verstehen?

Nach der Studie ''Health Literacy in Deutschland'' der Bielefelder Professorin Doris Schaeffer fällt es mehr als der Hälfte der nicht-medizinisch vorgebildeten Menschen in Deutschland (54,3 Prozent) schwer, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden.
Bereits die Ergebnisse einer Voruntersuchung in Nordrhein-Westfalen hatten belegt, dass vor allem Menschen mit Migrationshintergrund, geringem Bildungsgrad und Ältere unterstützt werden müssten.
Sie hätten beispielsweise Schwierigkeiten, Beipackzettel zu verstehen oder Informationen einzuschätzen. 44,5 Prozent der fast 2.000 Befragten äußerten Unsicherheit, die Vor- und Nachteile von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu beurteilen. Das geht Haus- und Fachärzten aber oft ähnlich!

Zweitmeinungen
Entsprechend sieht es bei den ärztlichen Zweitmeinungen aus: 49,3 Prozent der Deutschen empfinden es laut der Studie als „schwierig“, zu beurteilen, wann diese sinnvoll ist. „Ein großer Teil der Bevölkerung kann das Gesundheitssystem nicht effektiv nutzen und sich kompetent darin bewegen“, ist das Fazit von Studienleiterin Professor Doris Schaeffer.

„Literacy“ historisch
Doch was ist eigentlich „Health Literacy“? Korrekt ins Deutsche übersetzt wäre das eine möglichst umfassende Kunde von Gesundheit. „Literacy“ im engeren Sinne ist die Fähigkeit, mit basalen Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen umgehen zu können („Literacy is traditionally understood as the ability to read, write, and use arithmetic“).

Das moderne „Literacy“
Der Begriff „Literacy“ ist durch die moderne Sozialforschung umfassend erweitert und modernisiert worden: „The modern term''s meaning has been expanded to include the ability to use language, numbers, images, computers, and other basic means to understand, communicate, gain useful knowledge and use the dominant symbol systems of a culture. The concept of literacy is expanding in OECD countries to include skills to access knowledge through technology and ability to assess complex contexts“, so Wikipedia. "Literacy" versteht sich als umfassende/s komplexe Erkenntnis, Verständnis, Reflexion, Selbstreflexion und erweiterte Technologie-Nutzung.

Wissenschaftstheoretischer Wasserkopf
Damit ist die „Gesundheitskunde“ als umfassendes Schul- und lebenslanges Lern-Fach zu Sprach-, Zahlen-, Bilder-, Computer-, Verständnis-, Kommunikations- und Semiotik-Wissenschaften hochstilisiert worden, um technologischen Wissenserwerb und Verständnis komplexer Zusammenhänge zu erreichen.
Mit diesem wissenschaftstheoretisch völlig überladenen „Wasserkopf“ wollen sich Medizin-, Krankheits- und Versorgungs-bildungsferne sozialwissenschaftliche Experten/-innen als Gesundheitsforscher und Gesundheitswissenschaftler profilieren und über ihren neuen Wissenszweig Alleinstellungsmerkmale und weiteres Herrschaftswissen aufbauen.
Die niedergelassenen Vertragsärzte, insbesondere die primär bei Krankheits-, Gesundheits- und Präventionsfragen in Anspruch genommenen Familien- und Hausärzte wurden in einer sich permanent verändernden Wissenschafts-Gesellschaft in einem dauerhaften Diskurs über unterschiedliche Bewältigungs-Strategien bei Schwangerschaft, Geburt, Leben, Krankheit, Gesundheit, Vorsorge, Früherkennung, Chronizität, Behinderung, Palliation und Sterben gar nicht erst berücksichtigt.

Humanmedizin wird falsch eingeschätztzt
Was hat das alles mit der medizinischen Profession, mit Ärztinnen und Ärzten oder mit unseren Patienten/-innen in Klinik, Forschung und Praxis zu tun? Unser humanmedizinisches „Kerngeschäft“ mit Krankheiten bzw. Krank-Sein unserer Patienten über Anamnese, Untersuchung, Differenzial-Diagnosen, Beratungen, multidimensionalen Therapien, Palliation, privat- und vertragsärztlicher Praxis, Krankenhäuser und Universitäten wurde und wird von allen Vertretern der alleinigen Aspekte „Gesundheit“ und „Gesundbeten“ Medizin-bildungsfern falsch eingeschä

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