Vulnerable Gruppen im Fokus

Experten warnen vor zu hohen Erwartungen an Corona-Impfung

Was nutzt die Lockdown-Politik den am stärksten von der Coronakrise betroffenen Menschen? Eine Expertengruppe mahnt, mit dem Schutz vulnerabler Gruppen endlich ernst zu machen.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Eine ältere Patientin wird im Impfzentrum Halle/Saale gegen das Coronavirus geimpft.

Eine ältere Patientin wird im Impfzentrum Halle/Saale gegen das Coronavirus geimpft. Die Impfungen allein reichten allerdings nicht, warnen Experten, sie sollten Teil eines umfassenden Präventionskonzepts für vulnerable Gruppen sein.

© Hendrik Schmidt/dpa

Berlin. Fachleute haben vor überzogenen Erwartungen an die gerade angelaufene Impfkampagne gegen COVID-19 gewarnt. Zumindest in der Anfangsphase seien die Impfungen ausschließlich eine spezifische Präventionsmaßnahme für besonders infektionsanfällige Personengruppen, heißt es im siebten Thesenpapier zur COVID-19-Pandemie einer Autorengruppe um den ehemaligen Gesundheitsweisen Professor Matthias Schrappe von der Universität Köln.

Die Impfungen sollten daher in ein umfassendes Präventionskonzept eingebettet werden. Impfung und medikamentöse Therapie auf der einen Seite sowie Kontaktbeschränkungen und der Schutz vulnerabler Gruppen auf der anderen stellten keine Alternativen dar, sondern bildeten eine untrennbare Einheit, betonen die Experten, zu denen auch die Pflegemanagerin Hedwig François-Kettner, das ehemalige Mitglied des Sachverständigenrats Professor Gerd Glaeske und der Vorstand des BKK-Dachverbands Franz Knieps zählen.

Es war von Anfang an klar, dass es sich um eine Epidemie der Alten handelt.

Autorenteam: Professor Matthias Schrappe, Hedwig François-Kettner, Dr. Matthias Gruhl, Professor Dieter Hart, Franz Knieps, Professor Philip Manow, Professor Holger Pfaff, Professor Klaus Püschel, Professor Gerd Glaeske.

Gleichzeitig werfen die Mitglieder der insgesamt neun Fachleute umfassenden Gruppe aus Ärzten, Pflegefachleuten, Juristen und Sozialwissenschaftlern Bund und Ländern „gravierende politische Fehlentscheidungen“ vor. „Die Lockdown-Politik“ ist gerade für die vulnerablen Gruppen wirkungslos“, heißt es in dem Papier. Es sei kein gutes Zeichen, dass in diesem Zusammenhang die Stimmen der Spitzen der deutschen Ärzteschaft nicht gehört würden.

Corona-Mortalitätsrisiko bei über 70-Jährigen hoch

Sowohl Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt als auch KBV-Chef Dr. Andreas Gassen hatten im Dezember die Politik der Lockdowns als nicht nachhaltig gegeißelt. Reinhardt hatte mehr Kreativität von der Politik gefordert, zum Beispiel Senioren-Zeitfenster für Einkäufe im Einzelhandel, um die Kontakte älterer Menschen zu minimieren.

Hier finden Sie das 7. Thesenpapier der Expertengruppe

Mit dem Thesenpapier sortieren die Fachleute die Fakten entlang dieser Argumentationslinie. Die Sterblichkeit der über 70-Jährigen habe zum Jahresende 88 Prozent der COVID-19-bedingten Gesamtsterblichkeit ausgemacht, schreiben sie. In Zahlen. Von den 35.452 an COVID-19 verstorbenen Menschen im Jahr 2020 sind 31.402 älter als 70 Jahre gewesen.

Für diese Entwicklung sei nicht der Erreger verantwortlich, sondern die politisch Handelnden, schreibt das Expertenteam. Es sei von Anfang an „klar erkennbar“ gewesen, dass es sich um eine „Epidemie der Alten“ handele. Es sei aber versäumt worden, schon im Sommer entsprechende Präventionsprogramme für Herbst und Winter zu entwickeln. Zum Beispiel sei eine „umfassende Anstrengung zur Rekrutierung von Pflegekräften und zum Management der Intensivpflegekapazitäten“ unterblieben.

Lob für Impf-Priorisierung der Älteren

Deutlich werde dies in den Pflegeheimen. Dort seien Stand 5. Januar insgesamt 10.149 mit COVID-19 assoziierte Todesfälle verzeichnet. Das seien 28 Prozent der zu diesem Zeitpunkt registrierten 36.537 COVID-19-Todesfälle.

Die Priorisierung der Älteren bei der Impfung sei daher richtig. Die Autoren fordern aber, die öffentlichen Erwartungen an die Impfungen nicht zu überfrachten. Die „transparente Formulierung realistischer Ziele“ müsse an erster Stelle der Kommunikation stehen.

Die Impfung der Hochrisikogruppen werde mittelfristig zwar die Mortalität und die Morbidität der Angehörigen dieser Gruppen verringern, die Zahl der gemeldeten Infektionen aber nicht im gleichen Maße sinken lassen. So könnten die Impfungen prospektiv in der ersten Märzwoche von angenommenen 150.000 gemeldeten Neuinfektionen lediglich etwa 20.000 verhindern. Rechnerisch sei allerdings davon auszugehen, dass von den rechnerisch zu erwartenden 4700 Sterbefällen in den Alterskohorten über 80 Jahre 3200 verhindert werden könnten.

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