Industrialisierung in der Medizin
Gehirnwäsche kostet ärztliche Sorgfalt
Die Umgestaltung des Gesundheitswesens nach Prinzipien, die der Industrie entlehnt sind, ist ein Irrweg, findet Medizinethiker Maio. Wer Patienten optimal versorgen soll, muss von medizinfremden Anreizsystemen und überbordenden Kontrollen verschont bleiben, betont er auf dem DGIM-Kongress - und erntet donnernden Applaus.
Veröffentlicht:Professor Giovanni Maio
Position: Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Werdegang: Studium der Philosophie und Medizin, langjährige internistisch-klinische Tätigkeit, Weiterbildung an medizintheoretischen Instituten. 2000 Habilitation für Ethik in der Medizin; 2004 Rufe auf Lehrstühle in Zürich, Aachen und Bochum; 2005 Ruf auf den Lehrstuhl für Medizinethik an die Universität Freiburg.
Engagement: Mitglied in verschiedenen überregionalen Ethikkommissionen und Ethikbeiräten, Mitglied des Ethik-Beirates der Malteser Deutschland, Mitglied des Ausschusses für ethische und juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer, bioethischer Berater der Deutschen Bischofskonferenz.
MANNHEIM. Den guten Arzt erkennt man nicht nur daran, dass er das Notwendige tut, sondern mehr noch daran, dass er das Unnötige unterlässt.
An diesem treffenden Zitat des politisch sonst nicht ganz so treffsicheren Internisten Ferdinand Hoff gemessen befindet sich die moderne Medizin derzeit auf Abwegen.
Das Unnötige zu unterlassen ist keine Tugend, die in der modernen Medizin einen besonders hohen Stellenwert genießt. Diagnostischer und therapeutischer Aktionismus ist vielerorts das Gebot der Stunde.
Systemische Lösungen suchen!
Professor Giovanni Maio vom Lehrstuhl für Medizinethik der Universität Freiburg beschäftigte sich in seinem Plenarvortrag beim Internistenkongress in Mannheim mit der Frage, warum das so ist und welche Konsequenzen diese Entwicklung hat.
Die wichtigste Erklärung für die mittlerweile unübersehbare Tendenz zur Überversorgung sei der Umbau des Gesundheitswesens entlang einer aus der Industrie entlehnten Produktionslogik: "Politisch gewollt schafft man ein System mit Anreizen zur Produktivitätssteigerung. Und wenn die Ärzte danach handeln, weil sie sonst nicht existieren können oder Abteilungen geschlossen werden, kritisiert man sie, weil sie zu viel machen."
Statt mit dem Finger auf einzelne Personen oder Einrichtungen zu zeigen, plädierte der Medizinethiker dafür, Überdiagnostik und Übertherapie als systemisches Problem anzusehen und entsprechend systemische Lösungen zu suchen.
Mit Einzelmaßnahmen sei es nicht getan. Nötig sei vielmehr eine Abkehr von der "grundlegend falschen Prämisse, dass es in der Medizin so zugehen sollte wie in der Industrie."
Ärztliche Sorgfalt geht verloren
Welche Konsequenzen hat es, wenn die Medizin nach Industriekriterien organisiert wird? Zum einen wird die eigentliche Leistung des Arztes dadurch auf einzelne Eingriffe reduziert. Ausgeblendet wird dagegen das, was dem Eingriff vorausgeht, die ärztliche Sorgfalt.
Maio befürchtet auf Dauer eine Art Gehirnwäsche mit unabsehbaren Folgen: "Internistisches Denken heißt in Zusammenhängen denken. Je mehr Ärzte allein nach der Zahl der Eingriffe und nach dokumentierten Parametern bewertet werden, desto mehr werden sie selbst vergessen, dass sie mehr leisten als in diesen Parametern abgebildet wird."
Letztlich steige dadurch die Anfälligkeit des Einzelnen, sich wider besseren Wissens in eine Mengenausweitung zu flüchten.
Für Maio hat das politische Gesundheitswesen bis heute nicht verstanden, was ärztliche Betreuung eigentlich bedeutet: "In der Medizin geht es um den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten, nicht um absolute Sicherheiten. Deswegen braucht der Arzt Ermessensspielräume, um situationsgerecht zu entscheiden."
In der Realität geht der Trend genau in die andere Richtung: Behandlungsabläufe werden immer stärker standardisiert. Diese Art der Kontrolle sei für den Arzt demotivierend, weil sie impliziere dass er nicht wisse, wie zu entscheiden sei.
Eine weitere, sehr unmittelbare Konsequenz aus der industriellen Geisteshaltung ist die immer stärkere Zeitknappheit, die einem diagnostischen und therapeutischen Aktionismus ebenfalls Vorschub leistet.
Das richtige Maß wiederfinden
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Statt die Diagnostik durch medizinische Sorgfalt zu kanalisieren, begünstige die moderne Art der Patientenversorgung eine Schrotschussdiagnostik, die allenfalls anfangs, nicht aber langfristig Ressourcen spare.
"Eine diagnostische Kultur, die rein der betriebswirtschaftlichen Rationalität folgt, belastet nicht nur den Patienten. Sie ist am Ende auch teurer", so Maio.
Bei aller Kritik betonte Maio allerdings auch, dass es grundsätzlich ein Fortschritt sei, dass Ärzte heute mehr machen und auch mehr diagnostizieren können als je zuvor: "Ein Plädoyer für eine Medizin der Bescheidenheit kann kein vernünftiger Mensch ernsthaft halten." Vielmehr müsse es darauf ankommen, das richtige Maß wiederzufinden.
Derzeit gebe es in der Medizin eindeutig ein Präjudiz für das Machen. Die eigentliche Leistung des Arztes ist für Maio aber das Nachdenken und Abwägen, das dem Machen vorausgeht. Dafür sei Zeit erforderlich, und diese Zeit müsse den Ärzten zugestanden werden.
Seine Zuhörer spendeten donnernden Applaus.
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