Lebensende-Klinik
Jeder Vierte erhält Sterbehilfe
Menschen, die in den Niederlanden mit ärztlicher Unterstützung aus dem Leben scheiden, sind meistens unheilbar physisch krank. Sterbehilfe wird aber auch wegen psychischer Leiden gewährt. Das zeigt eine Bilanz der Lebensende-Klinik.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. Wer die Nachrichten über die Sterbehilfe-Praxis in den Niederlanden liest, wähnt sich in einem Paralleluniversum: In Deutschland diskutiert der Bundestag zurzeit über eine Verschärfung der Regeln für Sterbehilfeorganisationen. Von Teilen der Abgeordneten wird sogar ein Verbot dieser Organisationen gefordert.
Anders in den Niederlanden. Dort sind der assistierte Suizid sowie die Tötung auf Verlangen ("aktive Sterbehilfe") seit 2002 prinzipiell straffrei. Voraussetzungen dafür sind unter anderem der freie und wohl überlegte Wunsch des Kranken sowie ein "unerträgliches Leiden ohne Aussicht auf Besserung".
Zwischen 1,7 und 2,8 Prozent der jährlichen Todesfälle in den Niederlanden werden durch assistierten Suizid oder aktive Sterbehilfe herbeigeführt. 4829 Fälle von assistiertem Suizid oder von Tötung auf Verlangen wurden im Jahr 2013 offiziell registriert - ein Anstieg um 15 Prozent im Vergleich zu 2012.
Mobile Sterbehilfe-Teams
Für Menschen, deren Ärzte die Erfüllung des (Selbst-)Tötungswunsches ablehnen, hat die Sterbehilfeorganisation NVVE (Nederlandse Vereniging voor een Vrijwillig Levenseinde) im Jahr 2012 die sogenannte Lebensende-Klinik gegründet.
Mobile Sterbehilfe-Teams prüfen das Anliegen anhand von Krankenakten, durch Befragen des Hausarztes und in Gesprächen mit den Sterbewilligen und ihren Angehörigen. Wenn sie die notwendigen Voraussetzungen als gegeben erachten, geben die Ärzte dem Patienten ein Mittel für den Suizid oder führen selbst den Tod herbei.
Eine Bilanz des ersten Jahres der Klinik ist nun in "JAMA Internal Medicine" veröffentlicht worden (JAMA Intern Med, online 10. August 2015).
Von 645 Patienten, die sich an die Klinik gewendet hatten, hat jeder Vierte (25,1 Prozent) Sterbehilfe erhalten. Knapp der Hälfte der Patienten (46,5 Prozent) wurde die Unterstützung verweigert. Die übrigen Patienten waren entweder vor der abschließenden Beurteilung gestorben (19,2 Prozent) oder hatten ihren Antrag zurückgezogen (9,1 Prozent).
Autonomieverlust als Grund
Die größten Chancen auf Gewährung der Sterbehilfe hatten Patienten mit körperlichen Erkrankungen oder kognitiven Einbußen: 32,8 Prozent (113 von 344) bzw. 37,5 Prozent (21 von 56) der Anträge wurden akzeptiert. Patienten mit rein psychischen Erkrankungen hatten die schlechtesten Aussichten, mit einer Akzeptanzrate von 5,0 Prozent (sechs von 121).
Von den Patienten, die als "lebensmüde" eingestuft wurden, empfingen jedoch 27,5 Prozent (elf von 40) den Tod mithilfe eines Arztes. Patienten mit gewährter Sterbehilfe waren außerdem im Mittel 16 Jahre älter als die abgelehnten Patienten (77 vs. 61 Jahre).
Weitere Faktoren, die mit einer Bewilligung der Sterbehilfe einhergingen, waren die Elternschaft für mehr als ein Kind, Lebensmüdigkeit und Autonomieverlust.
Umgekehrt waren die Chancen geringer bei alleinstehenden Personen, psychischen Erkrankungen und Einsamkeit. Mit 25 Prozent wurde in der Klinik weniger Anträgen auf Sterbehilfe stattgegeben als in den Niederlanden allgemein, wo die Quote 32 bis 45 Prozent erreicht. Das liegt vermutlich daran, dass sich vor allem Patienten mit vom Hausarzt verweigerter Sterbehilfe dorthin wenden.
Aus demselben Grund waren vermutlich auch Krebspatienten seltener und psychisch Kranke häufiger unter den Antragsstellern, als dies sonst in den Niederlanden der Fall ist. Ob die Patienten letztlich durch aktive Sterbehilfe oder assistierten Suizid aus dem Leben schieden, ist den publizierten Daten nicht zu entnehmen.
In der gleichen Ausgabe von "JAMA Internal Medicine" werden auch Zahlen zu assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe aus Belgien vorgestellt, wo Ärzte beides völlig legal vornehmen können. In Flandern, dem holländisch sprechenden Teil Belgiens, waren diese Formen der Sterbehilfe im Jahre 2013 für 4,6 Prozent aller Todesfälle ursächlich.
Die meisten Patienten litten an Krebs, hatten einen akademischen Abschluss und waren unter 80 Jahre alt. Inzwischen äußern aber immer mehr Patienten den Wunsch nach Tötung oder Mitteln zur Selbsttötung, die nicht an Krebs leiden, über 80 Jahre alt sind oder in einem Heim leben. Gleichzeitig sind mehr Ärzte bereit, den Patienten die verlangte Unterstützung zu geben.