NAMSE
Neues Strategiepapier für Menschen mit seltenen Erkrankungen angekündigt
Patienten mit seltenen Erkrankungen haben einen schweren Stand. Zwar gibt es mehr Versorgungsstrukturen, auch können sich Ärzte besser informieren als früher. Aber beim Aufbau und der Zertifizierung von Zentren hakt es. Jetzt will das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) eine Art Neustart des Systems wagen.
Veröffentlicht:
In Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen an einer seltenen Krankheit.
© H_Ko / stock.adobe.com
Berlin. Die Betroffenen haben oft eine jahrelange Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäuser hinter sich, bevor sie eine gesicherte Diagnose bekommen. In Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen an einer seltenen Krankheit. Europaweit wird ihre Zahl auf 30 Millionen und weltweit auf 300 Millionen geschätzt.
Als selten gilt eine Krankheit in der Definition der Europäischen Union, wenn sie unter 10 .000 Menschen nicht häufiger als bei fünf Patienten auftritt. Das trifft auf rund 8000 Krankheiten zu. So viele sind in der europäischen Datenbank „Orphanet“ aufgeführt.
Seltene Krankheiten
- Vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer seltenen Erkrankung.
- 33 Zentren für Seltene Erkrankungen, auch für Kinder, sind derzeit auf der Webseite des Bundesforschungsministeriums gelistet.
- 8000 seltene Krankheiten führen Datenbanken auf. KBV und BÄK verweisen im „se-atlas“ auf Versorgungsangebote.
Die medizinische Versorgung dieser Menschen ist noch nicht abschließend gelöst. Strukturen sind erst im Aufbau. Ärzte fühlen sich nicht ausreichend über die seltenen Krankheiten informiert. Im Durchschnitt dauert es knapp fünf Jahre, bis die richtige Diagnose steht. Das heißt aber auch, dass viele Betroffene deutlich länger warten müssen, bis ihr Leiden einen Namen hat.
Vor zehn Jahren, im März 2010, herrschte Aufbruchstimmung. Bundesgesundheits- und -forschungsministerium sowie die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) aus 25 Spitzenverbänden des Gesundheitswesens schlossen sich im Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) zusammen. Auch die Bundesärztekammer (BÄK) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) sind dabei.
Informationen für Ärzte
Drei Ziele haben sich die Partner damals gesetzt:- einen Nationalen Aktionsplan für Seltene Erkrankungen aufzustellen
- den Plan umzusetzen und zu monitoren und
- die Förderung des Aufbaus von Fachzentren.
Im August 2013 lag der Nationale Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen vor. Er enthält 52 Maßnahmen. Die wenigsten sind bislang umgesetzt.
Immerhin haben KBV und BÄK gemeinsam mit dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin und der ACHSE Kurzinformationen als Diagnosehilfen für Ärzte veröffentlicht. Auch ein interaktiver Atlas („se-atlas“) liegt vor, auf dem sich Ärzte zu Versorgungsangeboten informieren können.
„Die Ziele sind nicht erreicht“
Kurz vor dem zehnten Gründungstag des Aktionsbündnisses ist Ernüchterung eingekehrt. In einem aktuellen Statusbericht räumt NAMSE ein, dass der Nationale Aktionsplan nicht umgesetzt sei und die Förderung der Bildung von Fachzentren stocke. „Damit kann festgestellt werden, dass die (...) 2010 formulierten Ziele noch nicht erreicht sind und es als weiterhin gültig angesehen werden kann, dass nachhaltige Verbesserungen nur dann erreicht werden können, wenn es gelingt, ein gemeinsames, koordiniertes und zielorientiertes Handeln der Akteure zu erreichen.“
Organisationsschwächen bei NAMSE hatte 2019 eine Untersuchung des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe ausgemacht. Das Aktionsbündnis sei kaum mehr als eine Plattform. Die Ziele seien unklar formuliert, es gebe keine Zeitvorgaben und wer für was verantwortlich sei, sei nicht festgelegt.
Eigene Handlungskompetenzen wolle die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen der NAMSE zudem nicht zugestehen. Das Gesundheitsministerium hatte bereits im April 2019 angekündigt, die Kritik des ISI in das NAMSE einzubringen.
Strategiepapier angekündigt
Dieser Prozess scheint nun anzulaufen. Der Statusbericht kündigt eine Neubewertung des Maßnahmenkatalogs an. Arbeitsgruppen sollen auf den Feldern Digitalisierung, Arzneimitteltherapie, Diagnose und Wissensmanagement aktiv werden.
Die von den Karlsruher Wissenschaftlern angemahnte Einrichtung verbindlicher Zertifizierungsverfahren für die Zentren soll eine weitere Arbeitsgruppe nun zielgerichtet angehen. Zusammengefasst werden soll der Neustart im Frühjahr in einem Strategiepapier.
Die bereits an den Universitäten eingerichteten Zentren fördern nach Ansicht von Fachleuten die Bereitschaft der Ärzte, sich mit den Seltenen auseinanderzusetzen. Auch der Einsatz von zentralen Recherchewerkzeugen, die Künstliche Intelligenz einsetzen, wird gewünscht.
Ärzte schlecht informiert?
Drei von vier niedergelassenen Ärzten hatten schon einmal einen Patienten mit Verdacht auf eine seltene Erkrankung. Das hat 2019 eine Umfrage der „Ärzte Zeitung“ ergeben. 61 Prozent der teilnehmenden 251 Ärzte fühlen sich demnach kaum oder nur mittelmäßig über Seltene Erkrankungen informiert. Zwei Drittel der Teilnehmer wünschten sich eine Stärkung der Hausärzte, um die Diagnosezeiträume abzukürzen.
434 Projekte zur Entwicklung neuer Arzneimittel hat die forschende Arzneimittelindustrie mit Perspektive 2023 in der Pipeline. 68 davon haben von der Europäischen Union den Orphan Drug-Status erhalten, heißt es in einer Veröffentlichung des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen (vfa). Das sind 16 Prozent. Die Entwicklung von Orphan Drugs hat sich damit seit 2005 bis heute in einem leichten Anstieg verdoppelt.