Hilfsmittelversorgung
LSG Celle stärkt Wahlrecht und Selbstbestimmung bei Hilfsmitteln für Behinderte
Kassen dürfen Menschen mit Behinderung bei der Hilfsmittelversorgung nicht mit der billigsten Lösung abspeisen, wenn dies für den Betroffenen eine „massive persönliche Zumutung“ bedeuten würde.
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Je nach ihrem individuellen Lebensstil kann es nicht genügen, wenn Kassen Versicherte mit Behinderung mit einem Standardrollstuhl versorgen.
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Celle. Bei der Hilfsmittelversorgung dürfen die Wünsche und gesundheitlichen Möglichkeiten behinderter Menschen nicht außen vor bleiben. Vielmehr ist dem Wunsch- und Wahlrecht „volle Wirkung zu verschaffen“, forderte das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen in Celle.
Danach darf im Streitfall die Kassen einem Querschnittsgelähmten nicht einen Elektrorollstuhl aufzwingen, wenn dieser für seinen handbetriebenen Rollstuhl nur eine elektrische Unterstützung wünscht und benötigt.
Der Kläger ist querschnittsgelähmt und leidet unter weiteren Krankheiten. Mit 49 Jahren will er seinen Körper aber nicht aufgeben. Bislang nutzte er daher einen Aktivrollstuhl und hatte für diesem zudem ein Handbike, ein mit Handkurbel betriebenes Zuggerät. Trotz dieses Trainings ließen die Kräfte nach und es traten Schulterbeschwerden auf. Daher beantragte er für seinen Rollstuhl ein Zuggerät mit elektrischer Unterstützung.
Die Krankenkasse sah darin eine „Überversorgung“. Die Mobilität im Nahbereich könne auch mit einem normalen elektrischen Rollstuhl sichergestellt werden, der nur rund die Hälfte koste. Das allerdings wollte der 49-Jährige nicht. Eine „rein passive Fortbewegung“ lehne er ab.
Nahbereich muss großzügig definiert werden
Der Medizinische Dienst bestätigte der Kasse zwar, dass hier der Elektrorollstuhl die nach den bestehenden Regelungen vorgesehene „Versorgung“ sei. Angesichts seiner bisherigen Handbike-Nutzung sei dies hier für den Kläger allerdings eine „massive persönliche Zumutung“.
Und eine solche „Zumutung“ müssen behinderte Menschen nicht hinnehmen, urteilte nun das LSG Celle. Hier benötige und wünsche der Kläger nicht einen Elektrorollstuhl, sondern nur eine elektrische Unterstützung bei der Fortbewegung. Dies müsse die Krankenkasse akzeptieren.
Zur Begründung betonte das LSG, das Grundbedürfnis der Erschließung des Nahbereichs dürfe „nicht zu eng gefasst werden“. Das ergebe sich aus einer an den Grundrechten und der UN-Behindertenrechtskonvention orientierten Auslegung der deutschen Gesetze.
„Dem Wunsch- und Wahlrecht des behinderten Menschen ist volle Wirkung zu verschaffen. Dies bedeutet, dass die Leistung dem Leistungsberechtigten viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung der Lebensumstände lässt und die Selbstbestimmung fördert“, heißt es in dem auch bereits schriftlich veröffentlichten Urteil.
Landessozialgericht Celle, Az.: L 16 KR 421/21