Leitartikel
Der Psychiatrie droht ein Rückfall ins 19. Jahrhundert
Psychisch Kranke dürfen nicht mehr gegen ihren Willen medikamentös behandelt werden - ans Bett fesseln darf man sie aber weiterhin. Die Regierung will Zwangsbehandlungen nun klar regeln. Die Zeit drängt, derzeit müssen Ärzte sogar den Tod ihrer Patienten in Kauf nehmen.
Veröffentlicht:
Zwangsernährung unterlassen? Dann könnte eine Verurteilung wegen Pflichtverletzung erfolgen.
© M. Ernert, Uni Heidelberg
Von Thomas Müller
Es scheint, als wollte die Bundesregierung die Gemüter der Psychiater zu deren Jahrestreffen etwas beruhigen, als sie ankündigte, nun rasch mit einem Gesetz die Zwangsbehandlung psychisch Kranker zu regeln.
Denn seit gut einem halben Jahr liegt ein Beschluss des Bundesgerichtshofs BGH vor: Psychisch Kranke dürfen nicht mehr gegen ihren Willen medizinisch behandelt werden, weil dafür nach zwei vorausgegangenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts die Rechtsgrundlage fehlt.
Was vielfach als Erfolg für die Autonomie der Patienten gefeiert wurde, hat eine Schattenseite: Patienten, deren Einwilligungsfähigkeit durch eine psychische Erkrankung stark beeinträchtigt ist, werden teilweise nicht mehr behandelt. Dabei sollte eine Therapie auch dazu dienen, ihre Autonomie wieder herzustellen.
Es kann sogar passieren, dass sie auch nicht mehr gegen organische Leiden behandelt werden dürfen und sterben. Psychiater um Dr. Sabine Müller von der Charité in Berlin nennen dafür ein drastisches Beispiel (Der Nervenarzt 2012; 9:1150-55): Eine junge Frau, die wegen massiver Schilddrüsenüberfunktion an einer Psychose erkrankt, verweigert Psychopharmaka und Thyreostatika. Nähme sie die Schilddrüsenmedikamente, ginge es ihr wieder besser.
Nach dem BGH-Urteil dürfen die Ärzte sie aber nicht behandeln, solange sie ihren Willen noch äußern kann. Lassen sie die Patienten jedoch sterben, droht ihnen eine Klage wegen unterlassener Hilfeleistung. Ähnlich ist es bei Anorexie ...