Schulen dicht oder nicht?

Die Rolle der Kinder in der Corona-Pandemie

Die Corona-Inzidenzwerte bei Kindern steigen. Es gibt Forderungen, die Schulen zu schließen. Doch die nackten Zahlen könnten wenig Aussagekraft haben.

Von Sebastian Fischer Veröffentlicht:
Eine Maske liegt im Unterricht auf Unterlagen, während im Hintergrund Schüler in einem Gymnasium mit Mund- und Nasenschutz zu sehen sind.

Eine Maske liegt im Unterricht auf Unterlagen, während im Hintergrund Schüler in einem Gymnasium mit Mund- und Nasenschutz zu sehen sind.

© Matthias Balk/dpa

Berlin. Die dritte Corona-Welle rollt über Deutschland. Das Land diskutiert über verschärfte Lockdown-Regelungen – auch mit Blick auf Kitas und Schulen. Am Freitag enden in vielen Bundesländern die Osterferien. Und dann? Schulen auf oder zu? Mit Blick auf die nackten Fallzahlen gibt es Forderungen, keinen weiteren Präsenzunterricht anzubieten.

Am Donnerstag wollen auch die Kultusminister der Länder über das Thema beraten. Doch die Rolle der Kinder in der Pandemie ist nicht leicht zu beurteilen.

Zunächst sind da die vom Robert Koch-Institut (RKI) gemeldeten Zahlen. Ein Vergleich der erfassten Corona-Fälle zwischen der letzten Februar-Woche und genau einen Monat später zeigt: Bei den Unter-Vierjährigen lag die 7-Tage-Inzidenz (Fälle pro 100.000 Einwohner und Woche) Ende März um 162 Prozent höher.

Bei den Fünf- bis Neunjährigen waren es sogar 228 Prozent, bei den Zehn- bis 14-Jährigen knapp 200 Prozent. Zum Vergleich: Auf alle Altersklassen bezogen lag der Anstieg der 7-Tage-Inzidenz bei 103 Prozent.

Wie viel tragen Kinder zum Infektionsgeschehen bei?

Heißt das jetzt, dass sich das Virus unter Kindern und Jugendlichen besonders rasant ausbreitet? So einfach ist es nicht. Laut Deutscher Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) sowie weiteren Experten und Forschern tragen Kinder aktuell nicht überproportional zum Infektionsgeschehen bei.

In einer gemeinsamen Stellungnahme geben DGKJ und BVKJ als Grund für die höheren Inzidenz-Werte bei Kindern und Jugendlichen die mittlerweile gestiegene Testzahl in diesen Gruppen an. Ein Vergleich zu anderen Altersklassen anhand der Inzidenzen sei daher nicht aussagekräftig.

Tatsächlich stieg zwischen etwa Ende Februar und Ende März die Zahl der PCR-Getesteten bei den Unter-Vierjährigen um etwa ein Drittel, bei den Fünf- bis 14-Jährigen um 14 Prozent. In allen anderen Altersgruppen ging die Zahl zurück oder blieb etwa gleich.

Effekte der Schnell- und Selbsttests

Denkbar ist aber auch, dass beispielsweise die obligatorischen Schnell- und Selbsttests an den Schulen dazu führen, dass mehr Infizierte auffallen, zum PCR-Test geschickt werden und dann als „positiv“ in die Statistik eingehen. Das würde bedeuten, dass die PCR-Tests gezielter eingesetzt würden.

Man könne aus der jüngsten Entwicklung „nicht schließen, dass die Kinder in der aktuellen Situation häufiger betroffen oder sogar Treiber der Ausbreitung wären“, sagt der Epidemiologe der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin, Professor Timo Ulrichs.

Laut dem Berliner Virologen Professor Christian Drosten solle man sich von der „blöden Idee“ verabschieden, irgendeine Gruppe sei „Treiber der Pandemie“, wie er Mitte Februar in einem NDR-Podcast erklärte. Er sagt aber auch: „Wenn man die Schulen offenlässt, während man andere Teile – gerade das Freizeitleben bei Erwachsenen – schließt, dann hat man nach einiger Zeit deutlich mehr Infektionshäufigkeit bei den Schulkindern.“

Studien zeigen, dass sich das Coronavirus im Rachen von Kindern genauso stark vermehren kann wie bei Erwachsenen – auch die ansteckendere Mutante B.1.1.7. Dennoch gehen einige Wissenschaftler davon aus, dass Kinder und Jugendliche weniger oder ähnlich ansteckend sind wie Erwachsene.

In Schulen und Kitas treffen sich unweigerlich große Gruppen

Natürlich macht der Erreger besonders in Regionen mit hohen Inzidenzen nicht Halt vor Bildungseinrichtungen – trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in den Gebäuden und auf den Wegen dahin. Während private Kontakte kaum noch erlaubt sind, treffen in Schulen und Kitas immer noch größere Gruppen unweigerlich aufeinander. Zudem wird durch Präsenzunterricht die allgemeine Mobilität gesteigert: Kinder und Jugendliche fahren mit dem Bus oder der U-Bahn, Eltern bringen ihren Nachwuchs und bleiben seltener zuhause.

In Anbetracht der dritten Corona-Welle plädiert Epidemiologe Ulrichs für eine zumindest weitreichende Schließung von Kitas und Schulen als Baustein einer großen Strategie, um Kontakte zu vermeiden. „Eigentlich wäre eine Verlängerung der Osterferien sinnvoll im Rahmen eines Gesamt-Lockdowns.“ Er setzt dabei allerdings auf regionale Konzepte. „Wo es die Gegebenheiten erlauben, da sollte man den Unterricht möglicherweise sofort nach den Osterferien wieder öffnen.“

„Schulschließungen sollten wirklich das allerletzte Mittel sein“, sagt Professor Johannes Hübner, stellvertretender Direktor der Kinderklinik und Kinderpoliklinik der Universität München. Auch die DGKJ-Vizepräsidentin Professor Ingeborg Krägeloh-Mann hält es für „wirklich die letzte Option“, Schulen dicht zu machen.

„Kollateralschäden“ durch Schulschließungen

In vielen Bereichen seien Einschränkungen mit Geld wiedergutzumachen, sagt Hübner. Doch bei Kindern und Jugendlichen gebe es „so viele Kollateralschäden“, wenn sie ständig daheim seien. Dazu zählt er etwa Fälle von häuslicher Gewalt, Bewegungsmangel durch ausfallenden Sport- und Schwimmunterricht und eine fehlende Interaktion mit den Freunden. Ganz zu schweigen vom verpassten Schulstoff.

Unklar ist weiterhin, auf welchen Wegen sich der Erreger unter jungen Leuten verbreitet – also ob er etwa häufiger von außen in den Unterricht getragen wird, anstatt dass sich die Schüler untereinander anstecken. „Wir wissen immer noch nicht genau, wo die einzelnen Übertragungen wirklich stattfinden“, sagt Ulrichs.

Nach RKI-Angaben fehlen häufig Informationen zur Infektionsquelle. Nur weniger als ein Zehntel der gemeldeten Corona-Fälle aller Altersgruppen konnten Ende März/Anfang April einem Ausbruch zugeordnet werden. Kommt es bei privaten Kontakten zu den meisten Ansteckungen? Oder in den Bereichen des öffentlichen Lebens, wo Menschen zusammenkommen – also auch in Schulen? Ulrichs: „Das ist ja immer noch eher spekulativ.“ (dpa)

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