„EvidenzUpdate“-Podcast
12 Lektionen aus dem Corona-Jahr 2021 – und wer braucht Paxlovid?
Das zweite Jahr in der Corona-Pandemie liegt hinter uns – mit Erfolgen und Rückschlägen. Haben wir die nötigen Lehren gezogen? Ein Jahresrücklick. Und ein Evidenz-Check über die COVID-Arznei Paxlovid™.
Veröffentlicht:Für Martin Scherer ist 2021 auch ein Jahr der „enttäuschten Hoffnungen“, enttäuscht über die Hoffnung, die COVID-19-Impfungen würden uns aus der Corona-Pandemie bringen. Dann kamen im Frühjahr Delta (B.1.617.2) und Ende November Omikron (B.1.1.529) – und gefühlt sind wir Ende dieses Jahres wieder am selben Punkt wie Ende 2020. Und das, obwohl wir mit dem Gamechanger Impfung in das Jahr gestartet sind, knapp 150 Millionen Impfdosen verabreicht wurden. Was wird von diesem Jahr bleiben? Welche Lehren haben wir gezogen, oder vielleicht auch vergessen zu ziehen?
Hätten wir dieses oder jenes besser machen können? Haben wir ob des Bundestagswahlkampfs den Sommer „verpennt“ und vergessen, uns auf den zweiten Corona-Winter vorzubereiten? Und was dürfen wir von Paxlovid™ (Nirmatrelvir/Ritonavir) erwarten, das als erste orale COVID-19-Arznei schon bald eine Notzulassung in Deutschland erhalten dürfte? All diesen Fragen gehen wir in einem etwas längeren Jahresrückblick vom „EvidenzUpdate“-Podcast nach. (Dauer: 01:21:44 Stunden)
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Transkript
Nößler: Das zweite Pandemiejahr liegt hinter uns. Ein Jahr mit Entbehrungen, neuen Virusvarianten. Aber auch mit Millionen Impfungen und neuen Erkenntnissen über das, was uns in dieser Pandemie beschäftigt. Deswegen wollen wir in dieser Episode von EvidenzUpdate-Podcast am Jahresende auf das Jahr 2021 zurückblicken. Und damit herzlich willkommen. Wir, das sind ...
Scherer: Martin Scherer.
Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier am Mikro ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin, Herr Scherer, grüße Sie!
Scherer: Hallo Herr Nößler!
Nößler: Hallo! Heute, kurz vor Silvester haben wir uns vorgenommen, dass wir so was wie einen kleinen Jahresrückblick machen wollen. Und zum Ende hin der Episode – das kann man jetzt vielleicht schon mal so ein bisschen spoilern – wollen wir uns noch mit zwei aktuellen Entwicklungen beschäftigen, die bei COVID-19 vielleicht manches anders machen könnte. Herr Scherer, ein zweites EvidenzUpdate-Podcast-Jahr liegt hinter uns, das kann man ja so auch mal sehen. Haben Sie eine Idee, wie viele Episoden wir gemacht haben dieses Jahr?
Scherer: Viele, sehr viele. Also insgesamt waren es bestimmt über 100 in den zwei Jahren. Und dieses Jahr müssen es an die 50 gewesen sein oder ein bisschen drunter, ein paar und vierzig vielleicht.
Nößler: Ja, es waren 35, um genau zu sein.
Scherer: Schlecht geschätzt. Ich glaube, insgesamt müssen wir schon so bei 100 liegen. Wir haben es ja auch mal eine Zeit lang täglich gehabt.
Nößler: Ich glaube, 90 haben wir. Die 100 knacken wir dann im Frühjahr. Dann feiern wir entsprechend.
Scherer: Das machen wir.
Nößler: Pandemiebedingt. Wenn Sie jetzt das Jahr zurückblicken – Sie haben sich auch ein bisschen beschäftigt mit den ganzen Themen im Vorfeld unserer heutigen Sendung, die uns das Jahr so begleitet haben. Haben Sie so ein persönliches Highlight aus den Gesprächen, die wir geführt haben? Gibt es so eine Episode, die Ihnen in Erinnerung geblieben ist ganz besonders?
Scherer: Also die am stärksten rezipierteste Folge war wahrscheinlich die Cholesterinfolge mit Jean-François Chenot.
Nößler: LDL, richtig.
Scherer: Die hatte sehr viele Zugriffe. Aber Highlight-Folge – das ist eine schwierige Frage. Wir hatten viele interessante Themen mit vielen tollen Gästen. Im Grunde atmet ja unser Podcast den Geist des wissenschaftlichen Pluralismus, wenn man das vielleicht mal so nennen kann, oder zumindest des medizinischen Pluralismus. Wir zeigen ja jedes Mal – oder versuchen zumindest –, dass die Allgemeinmedizin und die hausärztliche Medizin, die ja einen wesentlichen Teil der Gesundheitsversorgung trägt, nicht nur Anwendung von Wissenschaft ist, sondern auch Wissenschaft produziert. Und ich finde, das haben wir auf ziemlich vielfältige Art und Weise gezeigt.
Nößler: Also der gesamte Podcast als Highlight. Halten wir an dieser Stelle mal fest. Bevor wir in den Jahresrückblick einsteigen, noch so eine andere Tradition, die sich eingebürgert hat, nämlich die Tradition des Unworts des Jahres. Gibt es jetzt am 12. Januar, da wird es gekürt, das offizielle Unwort des Jahres 2021. Ich glaube, im letzten Jahr war es Coronadiktatur. Was wäre denn Ihr Unwort des Jahres 2021?
Scherer: Die Wissenschaft. Weder der Artikel „die“ noch das Wort „Wissenschaft“, aber in ihrer Kombination, „die Wissenschaft“, das wäre mein persönliches Unwort.
Nößler: Verstehe. Das ist so einer der roten Fäden in dieser Pandemie auch in diesem Jahr gewesen, Herr Scherer. Dass man immer von der Wissenschaft gesprochen hat, die etwas empfohlen hat, die irgendetwas beeinflusst hat in der Politik. Und wir hatten es, glaube ich, in der letzten Episode mit Pedram Emami, da war das auch wieder Thema. Und da haben wir auch festgestellt: Nö, gibt es ja gar nicht.
Scherer: Zumal man sich klar machen muss, was das weit verbreitete Verständnis von der Wissenschaft in der Gesellschaft ist. Das ist so eine unlogische Mischung aus logischem Positivismus und schlecht verstandenem Popper.
Nößler: Kann man eigentlich Karl Popper schlecht verstehen?
Scherer: Nun ja, ich sage mal so: Es kommt darauf an, wie man das in unsere Zeit übersetzt. Ich kann schon nachvollziehen, dass man geneigt ist, gegen Verschwörungstheorien, gegen Coronazweifler, gegen Fake-News-Verbreiter oder bei der Konfrontation mit Wissenschaftsskepsis, dass man da versucht, die reine Wissenschaft in Anschlag zu bringen. Aber das ist genau das, wofür Wissenschaft eigentlich nicht geeignet ist. Also es ist nicht so, dass Wissenschaften eine Fahne sind, unter der man sich versammeln kann oder der man hinterherlaufen kann, so nach dem Motto: Right or wrong - my country! Das hat übrigens auch in so einem kleinen Assay Peter Schneider sehr schön auf den Punkt gebracht. Follow the Science. Und das ist ein Plädoyer gegen, wie er es nennt, die wissenschaftsphilosophische Verdummung und für die wissenschaftliche Artenvielfalt. Das ist ein Büchlein, das kann man mal so zwischen den Jahren vielleicht einfach mal lesen. Kleiner Lesetipp hier an der Stelle.
Nößler: Denken mit dem eigenen Kopf. Das ist es.
Scherer: Genau.
Nößler: Aber das ist übrigens auch ein spannendes Wort, wo wir gerade beim Unwort des Jahres sind. Wissenschaftsskepsis, Herr Scherer, das ist ja eigentlich auch schon eine Absurdität des Begriffs. Weil Wissenschaft lebt doch davon, dass sie skeptisch ist.
Scherer: Ja. Zumal Wissenschaft oft dargestellt und inszeniert wird als etwas, was von außen auf das blickt, was Menschen tun oder unterlassen. Dabei ist Wissenschaft soziales Handeln. Und Wissenschaft kann irren, kann fehlen, kann sich entwickeln. Und das ist kein Kontinuum und vor allem kein reines Schwarz und Weiß.
Nößler: Ich denke auch, um dann direkt weiterzumachen, Karl Popper würde sich im Grabe umdrehen, wenn er jetzt hergenommen würde von irgendwelchen Leugnern, von erkenntnistheoretischen Leugnern, hätte ich jetzt fast gesagt. Skeptisch bleiben und die Dinge nie verabschließend erachten ist etwas anderes als zu negieren, dass es uns gibt und dass es Dinge gibt, die uns ausmachen. Herr Scherer, wir haben gebrainstormt oder vielmehr Sie haben gebrainstormt, das Jahr schon mal ein bisschen für sich Revue passieren lassen. Und das ist so die Basis dessen, was wir jetzt gleich machen wollen, nämlich dass wir noch mal durch die zwölf Monate, die hinter uns liegen, durchgehen wollen. Eins wird mich aber interessieren, so ganz aus dem Stand heraus: Haben Sie irgendeine Sache, irgendeine Klammer, die Sie ganz ad hoc mit diesem Jahr in Verbindung bringen würden? Wenn Ihre Enkel in 20, 30 Jahren Sie mal fragen: Opa, was war denn 2021 das, was das Jahr für dich ausgemacht hat?
Scherer: Vielleicht das Jahr der enttäuschten Hoffnungen.
Nößler: Das Jahr der enttäuschten Hoffnungen.
Scherer: Vielleicht die Hoffnung, dass uns die Impfung schneller unser altes Leben zurückbringen würde. Diese Hoffnung wurde auf jeden Fall enttäuscht.
Nößler: Ein Jahr mit Enttäuschungen. Also wir haben alle gedacht am Jahresanfang, jetzt impfen wir alle durch und dann ist die Pandemie hinter uns. Das war so das, was uns zusammengehalten hat.
Scherer: Denken Sie zurück: Am Anfang der Pandemie, da stand es ja noch in den Sternen, ob es überhaupt gelingen würde, rasch einen Impfstoff zu entwickeln. Dann hatte man ihn und dann passierte all das, auf das wir heute zurückblicken.
Nößler: Das Jahr der enttäuschten Hoffnungen. Das wäre so eine Klammer. Mir ist so ein bisschen der Eindruck entstanden, nachdem ich mich so mit den Stichworten beschäftigt habe, durch die wir jetzt gleich durchgehen, dass man auch sagen könnte, naja, das war so eine Art verlorenes Jahr in mehrfacher Hinsicht. Wir hatten es ja schon 2020, da wurde ja auch gesagt, naja, es ist ein verlorenes Jahr für die junge Generation, auch Entbehrungen, die sie erleben mussten. Aber mir sind so ganz, ganz viele Dinge aufgefallen, wo ich den Eindruck gewonnen habe, hm, da haben wir irgendwas verloren, da haben wir etwas nicht getan. Da hätten wir was tun können, da haben wir Lehren vielleicht nicht gezogen. Gehen wir mal durch und machen mal so eine Art Checkup, so eine Art Jahresgesundheitsuntersuchung für das Jahr 2021 und schauen, wo Hoffnungen enttäuscht wurden, okay?
Scherer: Wir wollen ja nicht in den Popper’schen Falsifikationismus verfallen. Aber hinsichtlich der Reflexion unseres Wissenschaftsverständnisses und dem, was in unserer Gesellschaft passiert ist, war es sicherlich ein verlorenes Jahr, da gebe ich Ihnen recht. Aber starten wir doch ruhig mal, ich nehme an bei Januar.
Nößler: Gute Idee. Wie sind Sie darauf gekommen? Okay. Dann sind wir mal ganz kreativ und dann nehmen wir den Scherer’schen Januar. Das große Coronaimpfen ist da losgegangen. Erst relativ langsam, dann immer ein bisschen schneller. Wir erinnern uns alle noch, das war eine spezielle Art des Impfens. Wir hatten Zentren, wir hatten mobile Teams, die Praxen waren erst mal außen vor, wenn man das jetzt so rückblickend betrachtet. War das gelungen? War das eine gute Lesson Learned? Würden wir das wieder so machen, Herr Scherer? Oder haben wir da irgendwas enttäuscht?
Scherer: Es ging gut los. Es kam dann auch sehr früh die Forderung auf, in den Haushaltspraxen zu Impfen, verbunden damit, dass die Rahmenbedingungen geregelt werden müssen. Dann das Bürokratiemonster bei der Dokumentation zu bändigen. Bürokratieabbau bei Impfungen, das war auch ein Thema, das hat sich von Januar an eigentlich das ganze Jahr über durchgezogen. Ich glaube, das wird eine Lessons Learned werden, dass wir mit Bürokratie besser umgehen müssen. Dann hatten wir auch einen EvidenzUpdate zu diesem Thema, wo wir über Impfneid gesprochen haben, über Debatten zur Impfflicht, die schon aufkamen. Und natürlich auch die Rolle der Hausärztinnen und Hausärzte in der Impfkampagne. Also gerade der Anfang war ja sehr geprägt von Priorisierungsdiskussionen und davon, wie soll das funktionieren mit den Parallelstrukturen und wo bleibt eigentlich der Impfstoff.
Nößler: Im Januar, da waren wir mittendrin im Lockdown. Und da gab es damals auch so eine Diskussion, wie alle Diskussionen im Moment, ganz merkwürdig auf Twitter irgendwie stattfinden. In einem Nichtdiskursraum wird versucht Diskurs zu machen. Also es ist absurd. Erinnern Sie sich, da gab es diese Diskussion über Zero Covid, No-Covid. Also im Prinzip so eine Strategie, die Pandemie auf null zu bringen. Erinnern Sie sich?
Scherer: Da erinnere ich mich gut dran. Und ich erinnere mich auch an diese etwas sehr merkwürdige Diskussion, unterschiedliche Strategien der Pandemiebekämpfung gegeneinander auszuspielen. Und eine unserer Botschaften, die wir in unserem Podcast herausgearbeitet haben, war, dass es das Zusammenspiel braucht aus Containment, aus Protection und eben auch die Impfung. Das hat sich interessanterweise das gesamte Jahr über auch nicht verändert, mit einigen Ruhephasen im Sommer. Aber dieses Prinzip gilt eigentlich heute noch.
Nößler: Das Prinzip gilt immer noch. Machen wir jetzt gerade wieder, wir impfen, wir boostern, wir machen Containment, indem wir jetzt wieder runterfahren. Die Frage ist dann immer noch: Klappt es mit der Protection so wie es klappen müsste? Gehen wir mal in den Februar. Da waren die niedergelassenen Ärzte immer noch raus aus dem Impfen. Also man kann vielleicht schon mal ein bisschen spoilern, es wird eine Menge um das Impfen jetzt gehen. Aber da ist was anderes passiert, das für Sie als Vertreter der DEGAM durchaus ein Riesenthema ist, nämlich das Thema Masterplan Medizinstudium 2020. Ist sechs Jahre her, dass es den gibt. Und ist vor etlichen Jahren beschlossen worden, von der Politik. Und es gab einen Entwurf für eine Reform der Approbationsordnung. Und dann ist diese Reform einfach mal gestoppt worden von den Landeswissenschafts- und Finanzministern. Ich muss Sie eigentlich gar nicht fragen, was Sie davon halten. Aber das ist doch eindeutig ein Punkt auf der Seite dessen, was wir verloren haben in diesem Jahr.
Scherer: Zumindest kam es zu Verzögerungen, pandemiebedingt, dann später auch durch den Wechsel an der Ministeriumsspitze. Es sind ja zwei Ministerien, die da interagieren, das BMG und das BMWF. Wir haben da etwas Zeit verloren, aber es wird weiter sehr intensiv gearbeitet. In unserem Format haben wir das auch sehr intensiv besprochen. Wir hatten ein Podcast dazu mit Ferdinand Gerlach. Das war dann kein EvidenzUpdate, das war ein ÄrzteTag-Podcast. Und dann gab es noch einen sehr schönen Podcast mit Attila Altiner und Annette Becker, zwei allgemeinmedizinische Prodekan/-innen an den Universitäten Rostock und Marburg. Was wir eben vergessen haben, Herr Nößler, wenn wir zurückblicken in den Januar dieses Jahres, da war mit Fortschreiten der Impfung beziehungsweise mit Anlaufen der Impfung relativ gut und erfreulich zu beobachten, dass das Sterben in den Alten- und Pflegeheimen endlich aufgehörte. Denken wir jetzt ein Jahr zurück, Dezember 2020, das war fürchterlich. Das war ein Effekt, der war früh spürbar und hat sehr früh auch ein Aufatmen gebracht.
Nößler: Aber das ist ja ein bisschen Déjàvu, Herr Scherer. Wir haben jetzt Dezember 2021. Und wir haben im Dezember 2020 mit dieser Impfkampagne begonnen in den Alten- und Pflegeheimen bei den Schwächsten in dieser Pandemie. Und jetzt sagen Sie, wir haben relativ schnell sehen können, dass das Impfen da was bringt, dass wir Menschen vor Erkrankung und Tod bewahren können, zumindest eben an dieser Erkrankung. Und haben wir die Situation mit Omikron, Herr Scherer, wo man einfach jetzt schon sieht in der Evidenz – kommen wir gleich noch mal zu –, dass der Schutz nach vollständiger Impfserie gegen null geht und man eigentlich dann boostern muss. Und jetzt boostern wir alle kreuz und quer. Ist das nicht ein bisschen Déjàvu? Ist das nicht vergleichbar, dass wir jetzt vielleicht verpassen, die richtigen Leute zu boostern, nämlich gerade die Alten und die Schwachen?
Scherer: Zumindest ist auch das eine Lessons Learned, die wir aus der Pandemie und auch aus dem Jahr 2021 ziehen können, dass es besser gelingen muss, einen Konsens über das zu erzielen, was gerade wichtig ist. Also was sind die Prioritäten der Versorgung? Was ist wirklich wichtig? Da muss es einfach besser gelingen, einen öffentlichen Konsens zu erreichen. Und weil dieser öffentliche Konsens, der bringt dann auch die Ruhe in die Versorgung, in die Praxen, die es dann auch braucht.
Nößler: Die Hörerinnen und Hörer, die sind es natürlich gewohnt, dass wir immer auch ein Stück weit selbst referenziell sind im positiven Sinne. Also dass wir durchaus auch rekurrieren auf Gespräche und Episoden, die wir jetzt zuletzt hatten. Vielleicht an dieser Stelle, Herr Scherer, darf man durchaus mal ganz gut gemeint und innerlich, glaube ich, sehr wertvoll gemeint, noch mal auf die letzte Episode verweisen mit Pedram Emami, da ging es auch um diese Frage: Wie kriegen wir Konsens hin? Wie kriegen wir jetzt auch in unsere politische Entscheidung da gute Argumente rein?
Scherer: Genau. Wer spricht mit welcher Legitimation in welches Mikro, in welchem Kanal? Und wie kann Politikberatung transparent ablaufen? Wie können Gremien transparent zusammengestellt werden? Wie kann eine sinnvolle Kommunikation funktionieren? Die auf der einen Seite differenziert ist, aber trotzdem die nötigen Botschaften rüberbringt. Das sei jedem noch mal ans Herz gelegt.
Nößler: Also Hörtipp – vielleicht hat der eine oder die andere ja noch ein bisschen frei, soll es ja geben. Wir sind bei Minute 17 und damit sind wir im März. Da haben wir dann tatsächlich, wenn man beim Thema ein Jahr der verlorenen Dinge sind, ein Jahr der verlorenen Möglichkeiten, dann haben wir tatsächlich ab März einen Impfstoff verloren. Vielleicht erinnert man sich so schnell gar nicht mehr dran, weil man es auch verdrängt hat, das war Vaxzevria von AstraZeneca. Und es ging im März los, die Diskussion um das Risiko von Sinusvenenthrombosen. Der Impfstoff, Herr Scherer, der ist faktisch weg vom Fenster, der ist faktisch weg vom Fenster. Der ist, um diesen Begriff zu verwenden, tot. Frage: Haben wir den kaputtgeredet, diesen Impfstoff? Oder war es einfach korrekt, dass der raus ist aus der Versorgung?
Scherer: Das ist das Ergebnis einer missratenen Wissenschaftskommunikation. Unter dem Strich hat der Impfstoff sicher mehr genützt als geschadet. Er hat einigen sehr wenigen Menschen geschadet. Aber in der öffentlichen Diskussion wurden diese Einzelfälle eben sehr groß gemacht durch Schlagzeigen, durch die Art, wie darüber gesprochen wurde. Erst ging das Vertrauen verloren in den Impfstoff, dann ging der Impfstoff selber verloren. Wir haben Ende März auch darauf hingewiesen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Hausarzt, Hausärztin und Patientin enorm wichtig ist für die Impfkampagne. Wir haben auch im März – wie gesagt, roter Faden, es zieht sich so durch – Abbau der Bürokratie gefordert beim Impfen. Und natürlich wurde auch kritisiert, dass es dann in den Praxen zu spät losging. Im März wurde angekündigt, dass im April die Impfungen in den Hausarztpraxen starten sollten. Das fanden viele – der Hausärzteverband, die DEGAM – zu spät.
Nößler: Hätte man eigentlich schon zu Beginn der Kampagne irgendwie mit einplanen müssen.
Scherer: Ja, genau.
Nößler: Sie haben gerade, interessant, den Begriff der missratenen Wissenschaftskommunikation benutzt. Ich könnte fast so weit geneigt sein zu sagen, das könnten wir über die gesamte Pandemie stellen. Eingangs haben Sie gesagt, wenn Sie irgendwann einmal von einem Enkelchen gefragt werden, woran erinnerst du dich im Jahr 2021, dann sagten Sie, wäre es das Jahr der enttäuschen Hoffnungen. Mit Blick auf diese missratene Wissenschaftskommunikation – jetzt nur ein Beispiel Vaxzevria – könnte man nicht sogar sagen, Herr Scherer, missratene Wissenschaftskommunikation, das ist auch eine dieser Klammern in dieser Pandemie, auch im Jahr 2021, reden alle über Virologie, wir reden über Impfstoffeffektivität, das findet medial total breit statt, überall. Aber irgendwie haben wir es bis dato noch nicht wirklich geschafft, den Leuten zu erklären, was bedeuten relative Risikoreduktionen, was bedeuten relative Risiken? Sie haben es gerade gesagt, einzelne Fälle, die tragisch sind natürlich, aber die man einordnen muss. Noch mal mit Blick auf die enttäuschten Hoffnungen. Konnte man nicht die Hoffnung haben, dass wenn hier eine ganze Gesellschaft über solche Themen redet, dass dann auch irgendwie eine Art Wissenschaftslerneffekt stattfindet, dass wir mehr als Gesellschaft dazulernen, wie wir mit Risiken umgehen, mit statistischen Einordnungen und man jetzt eigentlich konstatieren muss: Nö, haben wir nicht hingekriegt.
Scherer: Das müssen wir leider konstatieren. Und damit sind wir wieder am Anfang bei dem Unwort, bei meinem persönlichen Unwort des Jahres „die Wissenschaft“. Denn die Aufforderung, man solle der Wissenschaft folgen, die dient ja nicht nur der Abwehr von Verschwörungskram, von Nonsens, von allem möglichen Fake-Zeug, sondern sie impliziert ja auch so ein bisschen, es gibt die Hard Sciences, denen man folgen sollte und die Soft Sciences, die sind etwas weniger wichtig. Es gibt dann auch Vertreter der Hard Sciences, der Virologie, die auch ganz klar gesagt haben, welche Art von Wissenschaft relevant ist, welche Experten relevant sind, welche weniger relevant sind. Und so konnte man den Eindruck gewinnen, dass es hier auf die Hard Sciences ankommt. Also eher Biologie als Gendertheorie, eher Neurologie als Psychologie. Eher Dinge, die zählbar, die messbar sind. Und das, was man für so eine Pandemiebewältigung braucht, nämlich – Sie haben es genannt Risikokommunikation, dann ein Statistikverständnis, das auch geeignet ist, in die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung überführt zu werden. Auch zu verstehen, welche Risiken sind für mich relevant, wie ordne ich verschiedene Risiken ein. Das alles ist überhaupt gar nicht gelungen, leider. Und das hätten wir aber gebraucht, um mit Einzelfallschilderungen, Einzelfallberichten von Impfnebenwirkungen umgehen zu können, um den Menschen immer wieder zu verdeutlichen: das Leben birgt Risiken, täglich sind sie anderen Risiken ausgesetzt, die sehr viel größer sind als das Impfrisiko bei Vaxzevria. Wir haben das auch in der DEGAM dann mit Faltblättern versucht zu unterstützen, mit Astra-Starten oder Warten – haben wir es genannt. Haben verschiedene Lebensrisiken dem Impfrisiko gegenübergestellt. Und vor allem haben wir das COVID-19-Risiko dem vermeintlichen Impfrisiko gegenübergestellt und gezeigt, auch Astra hat eine sehr, sehr gute Risiko-Nutzen-Relation, gerade in den älteren Altersgruppen.
Nößler: Das Gleiche hatten wir am Ende mit den Myo- und Perikardititen bei den mRNA-Vakzinen. Wo man auch feststellen musste am Ende, das Risiko für eine Myokarditis nach COVID-19 ist auch nicht unerheblich.
Scherer: Ja.
Nößler: Interessant. Ich sehe nach wie vor, Herr Scherer, Wissenschaftsjournalisten, also auch Kollegen aus meinem Fach, die behaupten, dass eine Impfstoffeffektivität von 90 Prozent bedeutet, dass neun von zehn Geimpften nicht krank werden. So viel zum Thema Lerneffekt, Herr Scherer. Also ist eher fraglich, ob es den gab in der Pandemie in diesen Dingen.
Scherer: Ja, das ist fraglich, ob es den gab. Und wie will man den messbar machen. Aber wir hatten eigentlich noch nie ein so starkes öffentliches Diskursverhalten zu medizinischen Fachthemen. Und gleichzeitig – und das ist ja das Interessante und auch das Erschütternde – einen so geringen oder eigentlich kaum zu verzeichnenden Zuwachs an Gesundheitskompetenz. Das ist ja das, was wir uns fragen müssen. Warum gibt es noch ein Viertel der Bevölkerung, die nicht geimpft ist? Warum gibt es überhaupt noch so viele, die so stark zweifeln, wenngleich doch landauf, landab TV- Radio- und Internet-mäßig die ganze Zeit nichts anderes läuft als The Science.
Nößler: Und was man auch nicht vergessen darf – das wäre vielleicht mal eine ganz einfach Botschaft, die man häufiger kommunizieren könnte. Nach 150 Millionen COVID-19-Impfdosen, die nur in der Bundesrepublik von Ihnen und Ihren Kollegen verabreicht wurden, leben wir noch.
Scherer: Ja, wir leben noch. Dann sagen Ängstliche und Zögerliche, das ist ein zu kurzer Zeitraum. Wer weiß, was nächstes, übernächstes Jahr passiert. Dann sagen wir darauf, der Impfstoff verbleibt 14 Tage im Körper, produziert dort Antikörper beziehungsweise stimuliert die Produktion von Antikörper. Und nach 14 Tagen ist der Impfstoff weg. Das kann man immer wieder sehr geduldig und oft genug sagen. Die Verunsicherung ist einfach da.
Nößler: Auch eine Frage von Wissenschaftskommunikation oder halt missratener Wissenschaftskommunikation, die man sich dann überlegen kann: Hm, hätten wir nicht anders kommunizieren müssen, um die Verunsicherungen aufzunehmen. Herr Scherer, gehen wir mal in den April, weil das Thema wird uns natürlich noch weiter begleiten, das Thema: Wie kommunizieren wir, auch mit Blick auf die Impfung. Im April, wissen wir alle, und zwar Anfang April ist das Thema Impfkampagne dann so richtig in Breite gegangen und in die Höhe. Wenn man sich das Impf-Dashboard anschaut, da sieht man, wie dann die Zahlen wirklich rasant nach oben gegangen sind. Dann haben die Niederlassungen mit geimpft. War der April ein guter April, mit Blick auf: Jetzt durften alle Impfen? Oder retrospektiv, Herr Scherer, hätte der April anders aussehen können?
Scherer: Im April wurde die STIKO-Empfehlung für AstraZeneca angepasst. Und zwar uneingeschränkt für Personen ab 60 Jahren. Und es ging eigentlich auch schon los mit der Demontage der STIKO, in dem der damalige Gesundheitsminister die Ankündigung der Impfpriorisierung für Ende April vorgenommen hat, das zu einem Zeitpunkt, wo überhaupt noch nicht genug Impfstoff da war. Und das wiederum hat auch einen sehr ansteigenden Beratungsbedarf in den Hausarztpraxen verursacht. Und das war auch ein Effekt, den wir dieses Jahr beobachten mussten. Gesundheitsminister sagt irgendwas, STIKO arbeitet sorgfältig, sagt auch irgendwann was und in diesem Intervall liefen dann in den Praxen die Telefone heiß. Eine unnötige Mühe, die man hätte einsparen können. Und um in Ihrer Verlustmetapher zu bleiben, ein unnötiger Zeitverlust.
Nößler: Man hätte vielleicht auch vorher mal bei den Hausärzten anrufen können und fragen können: Ab wann sollten wir denn aus eurer Sicht die Priorisierung fallen lassen, oder? Das wäre auch so eine Art der Kommunikation.
Scherer: Oder zu versuchen, die Kommunikation etwas stringenter zu machen, sehr früh diejenigen mit einzubeziehen, die Betroffen sind, dass man sich mit Hausärzteverband, DEGAM, Politik und STIKO vielleicht gemeinsam hinsetzt und die Umsetzungsplanung und die Kommunikation dann aus einem Guss erfolgt. Das hätte es gebraucht. Das ist leider nicht passiert.
Nößler: Herr Scherer, es gibt ja immer auch Grund zur Hoffnung. Und wir wollen ja auch Zuversicht ein bisschen verbreiten. Immerhin ist durchaus bekannt von den einschlägigen Neujahrsempfängen des deutschen Hausärzteverbands, wo ja doch regelmäßig Karl Lauterbach, jetziger Bundesgesundheitsminister zu Gast war, dass der weiß, wo die Bleibtreustraße in Berlin ist. Also da kann man ja ein bisschen Hoffnung haben, dass dann vielleicht öfter mal da angerufen wird.
Scherer: Schauen wir mal.
Nößler: Müssen wir beobachten. Jetzt haben wir den April, missratene Kommunikation, Demontage der STIKO war so ein Stichwort. Das wird uns gleich noch begleiten. Es zieht sich dann ja irgendwie auch so durch das Jahr durch. Jetzt sind wir im Mai, bei Minute 28. Da ist so nach meinem Eindruck ab Mai so eine typisch deutsche Diskussion entstanden. Auf einmal ging das mit dem Impfen richtig los. Wir hatten dann das Thema Priorisierung nicht mehr. Sie haben es gerade erwähnt. Und eigentlich ist etwas super Positives entstanden, nämlich: Wow, wir können jetzt eigentlich bis Sommer – das war das Versprechen – wir können Sie alle impfen. Und wir schaffen jetzt hier etwas Gutes in der Pandemie. Aber nein, Herr Scherer, was haben wir gemacht? Wir haben diskutiert über Dokumentationen von Impfungen und über digitale Impfnachweise, als sei der Zweck der Impfung ausschließlich der Erhalt einer Urkunde. Ist das nicht typisch deutsch?
Scherer: Leider ja. Da ging es um so Dinge wie Fälschungssicherheit, technische Möglichkeiten. Wie ist es mit nachträglichen Einträgen durch Praxen. Also wirklich wieder sehr bürokratische Themen. Und gleichzeitig dann auch wieder die Unsicherheit: Wie sieht es eigentlich mit zuverlässigen Lieferzusagen aus? Wann kommt ausreichend Impfstoff an die Praxen? Warum wurden Impfzentren bevorzugt? Also das waren alles schwierige Themen. Wieso wird so viel Geld in eine Parallelstruktur gepumpt, während die Impfung beim Hausarzt mit 20 Euro vergütet wird? Das waren auch Themen aus dem Mai. Aber wir hatten auch was Schönes. Wir hatten die DEGAM-Corona-Leitlinie. Sie würden es selbstreferentiell nennen. Mit neuen Empfehlung zur Impfreaktion. Das war im Mai. Und hier noch mal einen Dank an die Autorengruppe und die ständige Leitlinienkommission der DEGAM, wir hatten im Mai schon die 18. Version unserer Corona-Leitlinie.
Nößler: Eine Living Guideline. Damals war es noch eine S1-Handlungsempfehlung. Also eher so konsensorientiert. Und jetzt, Herr Scherer – das darf man, glaube ich, auch noch mal an der Stelle sagen – seit eins, zwei Wochen ist es eine S2e-Leitlinie, ne? Also eine richtige evidenzbasierte Leitlinie.
Scherer: Ja, ganz genau. Das kommt in unserem Jahresrückblick dann ziemlich am Ende.
Nößler: Sorry. Das habe ich jetzt vorweggegriffen. Aber es war jetzt gerade der richtige Zeitpunkt. Also machen wir uns ein Knoten ins Tuchen, kommen wir gleich noch mal drauf, auf die S2e-Leitlinie. Und damit sind wir dann im Juni. Und wir nähern uns ja der warmen Jahreszeit. Und wenn man wieder mal auf das Impf-Dashboard schaut vom BMG und RKI und man sich da so diesen Verlauf der verabreichten Impfdosen anschaut, dann sieht man, dass so ab Juni, Juli der Impfbuckel erreicht wurde. Also dass so ein kleines Plateau entsteht. Das heißt, bis im Sommer wurde richtig viel in die Arme reingetan. Und, das dürfen wir auch nicht vergessen, Herr Scherer, wir hatten Bundestagswahlkampf. Das gerät gerne in Vergessenheit. Und das ging natürlich im Sommer dann so richtig in die heiße Phase. Und wenn ich mich so an diese Zeit ab Juni erinnere, wo wir über Sommerurlaube uns Gedanken gemacht haben, wo wir dann im Wahlkampf irgendwie waren, da war doch das Thema Impfen, das Thema Corona kaum mehr Prio 1 in den Nachrichten. Oder anders gefragt: Haben wir den Sommer verpennt, um uns wieder besser vorzubereiten? Zeit verloren?
Scherer: Nicht unbedingt verpennt, aber man kann es Aufatmen nennen. Mal ein paar Wochen das Gefühl zu haben, dass es auch noch andere Themen gibt und ein paar Wochen lang auch zu spüren, dass die Pandemie ihren Schrecken verloren hat. Und immer wieder, so war es auch im Sommer davor, kommt da die Hoffnung auf, dass die Pandemie vielleicht auch sich dem Ende neigt. Wir wissen, es ist dann nicht so. Es geht dann im Herbst wieder los. Aber wir hatten schon auch Probleme im Juni. Wir hatten auf der einen Seite die Aufhebung der Priorisierung mit großem Andrang in den Praxen, mit vielen telefonischen Anfragen und zugleich aber auch Impfstoffknappheit und unzuverlässige Lieferungen. Das war auf jeden Fall auch ein Problem im Juni. Aber ich gebe Ihnen recht, es kam etwas Ruhe rein in die öffentliche Impfdiskussion, wenngleich wir schon auch hier wieder das STIKO-Thema hatten und sich die DEGAM gezwungen sah, eine Pressemitteilung zum Umgang einiger politischer Entscheidungsträger mit der STIKO zu machen bezüglich COVID-19-Impfungen für Kinder und Jugendliche. Auch da hatten wir wieder das Vorpreschen der Politik. Und ein notwendiges sorgfältiges Abwägen der STIKO auf der anderen Seite. Und als Vertreterin der evidenzbasierten Medizin sieht sich die DEGAM dann tatsächlich auch gezwungen, die Methoden zu verteidigen mit ja, solche Empfehlungen erarbeitet werden. Ich selber war zwölf Jahre lang für die Leitlinienentwicklung der DEGAM verantwortlich und weiß, glaube ich, was es heißt, eine Empfehlung zu erarbeiten. Das braucht Zeit, das darf nicht unter Druck passieren. Deshalb haben wir hier nicht nur die STIKO verteidigt, sondern wir haben eine Art der Wissenschaftskultur verteidigt, die wir als notwendig ansehen, um die evidenzbasierte Medizin als Entscheidungsgrundlage zu bewahren.
Nößler: Das STIKO-Bashing, das war ja ein Stück weit dann schon wirklich en vogue geworden im Laufe des Jahres. Das hat sich dann immer weiter zugespitzt. Und man stellt sich da ernsthaft die Frage ... Oder nein, man ist eigentlich durchaus voller Bewunderung, dass die Leute, die Mitglied in der STIKO sind, die das ehrenamtlich machen, das nach wie vor noch machen. Also nachdem, was sie da alles gesagt bekommen haben.
Scherer: Ja, das ist bewundernswert, was die Kolleginnen und Kollegen da einstecken können und erschütternd gleichzeitig, was sie einstecken müssen. Das haben sie wirklich nicht verdient.
Nößler: Machen wir vielleicht an der Stelle noch eine kleine Lessons Learned. Herr Scherer, mit dem Blick auf das Thema STIKO – Sie haben es gesagt – evidenzbasierte Empfehlungen brauchen Zeit, da braucht man Erfahrungen, Know-how, man muss sich mit der Evidenz erst einmal beschäftigen. Wir wissen, dass die STIKO noch Modellierungen dazu macht für die Situation in Deutschland auf spezifische Fragestellungen hin. Macht es nicht vielleicht tatsächlich Sinn zu überlegen, diesem Gremium, dieser Kommission gerade auch für solche anspruchsvollen Zeiten wie eben jetzt einer Pandemie nicht eine sehr viel besser ausgestattete Geschäftsstelle zur Seite zu stellen? Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, die haben heute da drei Mitarbeiter. Und den Rest machen die dann irgendwie im Ehrenamt nebenbei. Wäre das nicht eine Lessons Learned, dass man sagt, die STIKO, die Ehrenamtler, die Unabhängigkeit dieses Gremiums, das ist eigentlich sehr gescheit, aber, Lessons Learned, die brauchen eine sehr viel besser ausgestattete Geschäftsstelle, dies sie unterstützt.
Scherer: Das Virus hat uns an Stellen getroffen, an denen wir nachbessern müssen. Das hat sich in der Pandemie bislang gezeigt, dass wir an den wunden Punkten auch empfindlich getroffen wurden. Sei es beim Fachkräftemangel, bei den personellen Situationen auf den Intensivstationen. Sei es beim öffentlichen Gesundheitsdienst oder eben auch bei der personellen Ausstattung der STIKO. Das zeigt sich dann unter Pandemiebedingungen. Die haben trotzdem einen super Job gemacht. Aber klar, die brauchen mehr Leute, gerade in solchen Krisenzeiten. Und auch mein persönliches Ehrenamt oder auch das Ehrenamt anderer DEGAM-Menschen hat sich total verändert. Dieses Ehrenamt ist ein täglicher Job geworden. Das habe ich mir so auch nicht vorgestellt.
Nößler: Und auch das ist wahrscheinlich selbst innerhalb der Ärzteschaft vielen nicht bewusst, die sich jetzt nicht gerade berufspolitisch oder in Fachgesellschaften engagieren, was da so an Energie noch reingegeben wird von den Kolleginnen und Kollegen. Vielleicht auch noch mal ein Punkt, das immer noch mal zu thematisieren.
Scherer: Dass das Ehrenamt einerseits überlastet wird mit Anforderungen und Erwartungen und man sich dann aber auch gleichzeitig wiederum Häme gefallen lassen muss, dass es ja nur ehrenamtlich ist. Aber dabei vergessen wird, dass ein Großteil der Evidenzgenerierung in der AWMF, der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften in Deutschland mit über 180 medizinischen Fachgesellschaften und Leitlinienentwicklungen, dass der Großteil dessen ehrenamtlich passiert. Das war schon immer so. Und dass auch in den letzten Jahren, Jahrzehnten das Ehrenamt ein Großteil der medizinisch-wissenschaftlichen Arbeitsgrundlage bereitgestellt hat, das vergisst man, wussten viele nicht. Vielleicht erfahren es manche auch erst jetzt.
Nößler: Alles braucht seine Zeit, aber durchaus mal ein Thema, das zu thematisieren. An der Stelle: Es gibt ja vom Innovationsfonds beim GBA durchaus auch die Möglichkeit, dass man für die Entwicklung von Leitlinien da Projekte einreicht. Und ich meine, die Psychiater hätten da irgendwie auch einen Zuschlag jetzt Ende des Jahres bekommen für zwei Leitlinien. Und die hatten zu dem Zeitpunkt dann auch mal mitgeteilt, dass das alles Ehrenamt ist, was sie normalerweise machen. Und da quasi eine Unterstützung zu bekommen, in dem Fall jetzt finanziell, dass man da irgendwie auch Wissenschaftler unabhängig dann auch bezahlen kann für eine Recherche, für eine Literaturrecherche, das scheint eine Seltenheit zu sein. So gesehen durchaus mal ein Thema für sich. Über das können wir dann ja im nächsten Jahr mal sprechen, EvidenUpdate. Wie könnte Leitlinienentwicklung beispielsweise anders strukturell befördert werden.
Scherer: Das können wir gerne machen.
Nößler: Das merken wir uns. Wir sind im Juli, Herr Scherer. Im Juli haben wir dann wieder angefangen, Dinge zu verlieren, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Wir haben manches dazugewonnen, aber verloren haben wir beim Thema Impfen nämlich manche Impfzentren, weil da ging es dann los, dass man sich verständigt hat, die Impfzentren per Ende September zu schließen und die ersten haben dann auch schon zugemacht. War das unnötig?
Scherer: Das waren sehr teure Doppelstrukturen, die dann auch nicht mehr ausreichend ausgelastet waren. Zudem war das Impfen in den Hausarztpraxen gut angelaufen. Die Entscheidung, Impfzentren zu schließen, war nachvollziehbar. Ich würde hier nicht von einem Verlust sprechen, sondern einfach von einer Folge einer unausgelasteten, sehr teuren Doppelstruktur. Aber es gab noch andere Dinge. Es kam eine Version 19 unserer Corona-Leitlinie raus, die STIKO hat eine 8. Aktualisierung der Empfehlung zu COVID-19 veröffentlicht, und dieses Mal zum heterologen Impfschema, wir hatten ja das Thema Astra. Kaum einer wollte noch Astra haben. Deshalb heterologes Impfschema, mit Astra angefangen, mit BioNTech dann weitergemacht, die zweite Impfung. Und es gab noch ein paar andere Dinge im Juli. Es hat das e-Rezept, wenn Sie sich erinnern ...
Nößler: (lacht)
Scherer: Warum lachen Sie jetzt?
Nößler: Weil wir sind noch nicht im Dezember. Aber es ist interessant, dass Sie es im Juli schon mal ansprechen.
Scherer: Es sollte zumindest die Testphase starten.
Nößler: Korrekt. Ist sie ja auch. Ich glaube, in einer Handvoll Praxen am Ende.
Scherer: Genau. Ebenso wie mit der ePA, jetzt können Sie gleich noch mal lachen.
Nößler: Ja, das wird uns, glaube ich, die nächsten Monate jetzt in unserem Rückblick noch beschäftigen. Genauso wie das nächste Jahr dann.
Scherer: Gucken wir mal in den August.
Nößler: Ja, Boostern, das ist ganz interessant. Tatsächlich ging es im August mit dem Boostern los. Es gibt von der STIKO beim Robert-Koch-Institut eine interessante Chronologie zur COVID-19-Auffrisch-Impffehlung durch die STIKO. Die verlinken wir mal in den Shownotes, da haben die mal auch angesichts der ganzen politischen Ärgerlichkeiten und Vorhaltungen, die das Gremium sich so ausgesetzt sah, zusammengetragen, wie kam es denn wann zu diesen Empfehlungen. Und tatsächlich, am 2. August hat die Gesundheitsministerkonferenz beschlossen, Booster-Impfungen für Pflegebedürftige, Höchstbetagte und Menschen mit einer Immundefizienz, sechs Monate nach zweiter Impfung. Aber so richtig losgegangen ist es erst später, Herr Scherer.
Scherer: Ja, da muss man ihnen wahrscheinlich recht geben. Auch der GMK muss man recht geben, dass es vielleicht sinnvoll gewesen wäre, da früher anzufangen. Gleichwohl kann man verstehen, dass die STIKO erst später rausgekommen ist mit ihren Empfehlungen, weil die Daten dementsprechend noch nicht so vorlagen. Das ist ein Dilemma. Hinterher ist man immer schlauer. STIKO wurde auch dafür kritisiert, warum habt ihr so lange gebraucht. Aber das ist genau das, was ich meine. Stellen Sie sich vor, man ist zu voreilig, verwechselt Glauben mit Wissen, posaunt zu früh eine Empfehlung raus und es passiert irgendwas, es läuft schief, dann können Sie sich vorstellen, was dann los ist.
Nößler: Ja. Die Lessons Learned hatten wir ja schon, ne? Also Stichwort STIKO, wenn man überlegt, denen eine andere Struktur zu geben, dass sie Wissen vielleicht noch schneller verarbeiten und generieren können, könnte man ja da vielleicht noch ein bisschen an der Temposchraube drücken, ohne den Grad der Evidenzgenerierung zu gefährden.
Scherer: Ja. Aber es müssen halt auch die Daten vorliegen.
Nößler: Richtig. Dann schauen wir mal in den September. Jetzt müsste man vielleicht lange, lange überlegen, was im September war. Wir beide wissen, dass man eigentlich gar nicht lange überlegen muss. Ich würde sagen, Bundestagswahl, die hat tatsächlich dann jemand verloren, wenn wir mal bei diesem Terminus bleiben. Und Herr Scherer, Ihr Highlight war doch ganz sicher die DEGAM-Jahrestagung zwei Wochen davor.
Scherer: Das war der 55. DEGAM-Kongress. Da ging es natürlich auch um Corona, um das Impfthema. Es ging aber auch um die Digitalisierung. Und im September war auch der 42. Deutsche Hausärztetag, eben auch zu Corona, zur Krisenpolitik, zur modernen Patientenversorgung, auch zur Digitalisierung, ganz ähnliche Themen. Aber immer mit einem berufspolitischen Schwerpunkt, wir schauen das mehr medizinisch-wissenschaftlich an.
Nößler: Hatten wir eigentlich gewettet, ob Karl Lauterbach Gesundheitsminister wird?
Scherer: Nein, ganz sicher nicht.
Nößler: Hätten wir gewettet, hätten Sie auf ihn getippt?
Scherer: Fahrradkette.
Nößler: Da haben wir es wieder. Ich gebe zu, ich hätte nicht auf ihn getippt. Insofern eine Überraschung. Ja, DEGAM-Kongress haben Sie gesagt, Deutscher Hausärztetag war übrigens direkt vor der Bundestagswahl in der Woche. Damit sind wir dann im Oktober und dann löst sich vielleicht auch so ein bisschen auf, warum ich eben gelacht habe beim Thema e-Rezept und beim Thema ePA. Denn im Oktober haben wir erlebt, dass Deutschland ein digitales Entwicklungsland ist, wieder einmal. Das Thema eAU, e-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist dann verschoben worden aufs Jahresende. Die hätte etwas früher schon Pflicht sein sollen. Herr Scherer, ein Verlust?
Scherer: Ein Zeitverlust zumindest. Die Startphase musste verschoben werden aufgrund vieler technischer Probleme. Und auch da wieder, wenn Sie gerne beim Verlust bleiben wollen, ein Reibungsverlust im Oktober, Aufruf von Minister Spahn zur Booster-Impfung für alle Erwachsene, STIKO-Empfehlung bisher Drittimpfungen nur für über 70-Jährige und wenige andere. Auch da war wieder das Problem: Boosterung für den, der am schnellsten laufen konnte.
Nößler: Richtig. Und dann haben die Leute ja auch angefangen zu laufen, ab dem November ging es ja los.
Scherer: Rannten die Praxen ein, die Telefone klingelten.
Nößler: Und dann sind wir aber, wenn wir jetzt nämlich gleich in den November kommen und dann haben wir noch mal einige Hiobsbotschaften, an dem Punkt, Sie haben eben gesagt, das Thema Impfzentren im Sommer war eine teure Doppelstruktur, die nicht mehr nötig war. Wenn wir jetzt in die Zeit schauen, November/Dezember – kommen wir gleich zu – und wir dann feststellen, die Praxen werden überrannt und die Praxen haben eigentlich auch ihre eigenen Patienten, die sie prioritär natürlich versorgen wollen und vielleicht auch da priorisiert, macht es dann nicht tatsächlich Sinn, für solche Phasen eine Struktur vorzuhalten, in der öffentlichen Hand – wie auch immer die aussehen kann –, die man dann für so ein breites Impfen wieder hochfahren kann? Wir kennen alle noch das Thema Reinimpfungen. Wäre das nicht etwas, was nötig ist?
Scherer: Dazu müssten Sie mir erst einmal erklären, welchen Vorteil eine solche Doppelstruktur gegenüber einem Impf-Drive-Through hätte zum Beispiel. Also man könnte ja auch das Personal, das in diesen Impfzentren gebunden ist – und das wurde vielfach auch sehr erfolgreich gemacht – für mobile Impfteams dann hernehmen für Impfstraßen. Und da flexible Möglichkeiten dann auch nutzen. Es wurde sehr viel und sehr kreativ geimpft in unterschiedlichen Settings, Straßen, Drive-Through, mit Bratwurst, ohne Bratwurst, da wurde sich sehr viel ausgedacht. Und ich bin einfach skeptisch, dass es dort teure Doppelstrukturen braucht. Sondern das sind Organisationsfragen. Und ich habe selber solche Straßen erlebt, wo man gar nicht das Auto verlassen musste, wo man einfach drin saß, durch das Fenster – übrigens auch bei dem Testen. Es gab auch Test-Drive-Troughs, es hat sehr gut funktioniert. Die Amerikaner haben das ja seinerzeit vorgemacht. Also wenn bestimmte Dinge geklärt sind, wenn auf bürokratische Formalitäten verzichtet werden kann, dann funktioniert es ganz gut. Im Grunde genommen war das ja beim Booster so, dass es auf zwei Dinge ankam. Die erste Sache war: Haben Sie die ersten beiden Impfungen gut vertragen? Und die zweite Sache war, dass es einfach auch darum ging, Impfnotfälle gut auffangen zu können. Und dann fiel ja irgendwann auch noch die Notwendigkeit einer schriftlichen Zustimmung weg und dann hatten wir auch weniger Papierkram.
Nößler: Also Impfzentren – sagt Martin Scherer – braucht es nicht, weil er noch nicht überzeugt ist, dass es diese Art der Doppelstruktur braucht. Aber – das habe ich jetzt herausgehört – Sie können sich sehr gut vorstellen, quasi aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst im weitesten Sinne, dass man eben solche aufsuchenden Impfkampagnen macht, beispielsweise Impfstraßen, Impfaktionen, dass man eben auch Leute erreicht, die jetzt zum Beispiel nicht bei einem Hausarzt in Behandlung sind.
Scherer: Und viele Kolleginnen und Kollegen haben Überstunden gemacht, haben die Wochenenden dafür hergegeben. Das kann man, glaube ich, auch als Positivum mitnehmen.
Nößler: Jetzt auch übrigens in der Weihnachtszeit. Also da haben wir auch noch viele durchgeimpft. Gut, Weihnachtszeit, damit sind wir dann im November fast schon, jedenfalls Adventszeit. Und der November hat dann tatsächlich relativ rasch – naja, es war Mitte November – mit einer Hiobsbotschaft das Jahr ausläuten lassen, nämlich Stichwort: Deckelung der Impfstofflieferung bei der BioNTech-Vakzine. Und dann gab es gleichzeitig den erneuten Aufruf der Gesundheitsminister, dass jeder sich impfen lassen möge. Da haben wir wieder etwas verloren, Herr Scherer, Impfstoff und Ruhe in den Praxen.
Scherer: Impfstoff, Ruhe und den Fokus auf das Wesentliche, nämlich: Wer braucht jetzt hier eigentlich am dringendsten den Impfstoff? Da wurde wieder über Boostern von allen gesprochen, viel zu viel und viel zu laut. Und Ulrich Weigeldt hat zu recht darauf hingewiesen: Hauptproblem sind Erwachsene, ungeimpfte. Und dann war natürlich auch eine wesentliche Priorität, erst einmal die Älteren zu boostern. Und das ist das, was ich anfangs meinte, dass immer wieder ein bisschen verschwommen ist, worauf kommt es jetzt hier eigentlich an, was ist jetzt hier eigentlich wichtig in der Versorgung. Was sind eigentlich die Prioritäten. Und das ist eine ganz entscheidende Lessons Learned. Das hatten wir auch mit Pedram Emami letzte Woche. Es ist nicht alles gleich wichtig in der Pandemie. Es ist nicht jeder gleich gefährdet. Wir wissen vom ersten Moment der Pandemie an, welche Bevölkerungsgruppen besonders gefährdet sind und auf wen man besonders Acht geben muss. Und das fiel noch mal im November sehr stark auf, dass uns hier die gemeinsame Prioritätensetzung nicht gut gelungen ist.
Nößler: Wobei man ja auf der anderen Seite sagen muss, es gab ja durchaus innerhalb der Medizin, innerhalb der Fachgesellschaften sehr viel mehr Grautöne, was das angeht. Oder anders gesagt, gab es schon eine Menge Klarheit, lasst uns mal bitte fokussieren, so wie Sie es gerade sagen, nämlich, wir müssen wieder eine Reihenfolge beachten beim Boostern. Nur die Politik hat sich irgendwie daneben hingestellt und gesagt: Ist mir wurscht, was ihr sagt.
Scherer: Man hätte jedenfalls die Stimmen wahrnehmen können, die das immer wieder auch kundgetan haben. Ob das jetzt The Science war oder ob das andere Stimmen waren, das lass ich mal dahingestellt. Aber innerhalb der medizinischen Wissenschaften wurde das immer wieder klar gesagt, das hätte man hören können.
Nößler: Ja, es gab die Stimmen, die man hören konnte übrigens zum Beispiel im EvidenzUpdate-Podcast. Das ist jetzt wieder ein bisschen selbstreferentiell.
Scherer: Naja, das sagen Sie immer so negativ.
Nößler: Ich sage das gar nicht negativ. Ich meine es wirklich aufrichtig, Herr Scherer.
Scherer: Wenn man über 90 Folgen in zwei Jahren gemacht haben, das ist ja schon auch eine Menge. Wir hatten ja auch tolle Kolleginnen und Kollegen da und im November auch Herrn Mertens mit einem sehr schönen EvidenzUpdate.
Nößler: Auf diese Episode wollte ich nämlich gerade hinweisen. Nichts anderes war meine Intention. Soviel dazu. Also, wir sind am Jahresende. Der Advent ist fortgeschritten und wir landen im Dezember. In den Praxen herrscht Chaos, herrscht Unruhe, weil man gesagt bekommen hat, ja, ihr sollt jetzt bitte alle boostern, alle impfen, aber Impfstoff kriegt ihr nicht, ätsch, bätsch. Und gleichzeitig wurde den Ärzten auch noch gesagt, sie sollten am Wochenende lieber impfen statt Golf zu spielen. Daran erinnern wir uns auch alle noch dran. Und sie haben ja dann auch geimpft, und zwar wie blöd. Und das stellt man dann wirklich im Dezember fest. Aber so zum Jahresende hin haben wir was gewonnen, Herr Scherer. Wir haben eine neue Bundesregierung gewonnen. Am 8. Dezember war die Angelobung des Kabinetts Scholz. Wir haben einen neuen Bundesgesundheitsminister bekommen, Karl Lauterbach, immerhin jemand, der der evidenzbasierten Medizin sehr nahesteht, das weiß man. Und wir haben wieder was verloren, das e-Rezept. Das hätte nämlich am 1. Januar kommen sollen. Was überwiegt denn für Sie im Dezember?
Scherer: Bundesregierung versus e-Rezept?
Nößler: Die neue Bundesregierung hat ja sofort gesagt, wir verschieben das jetzt mal mit dem e-Rezept. Das hängt ja schon zusammen.
Scherer: Ja, ich tue mich schon schwer, die Bundesregierung mit dem e-Rezept in ein Ranking zu bringen. Das sind völlig unterschiedliche Kategorien. Also man muss jetzt abwarten, wie das alles wird. Auf die Digitalisierung wird ein starkes Augenmerk gelegt. Und da können wir, glaube ich, zu recht drauf hoffen, dass die Ampel da einiges zu Wege bringen wird. Aber was ist passiert im Dezember? BMG verkündet eine Verlängerung der Testphase des e-Rezepts. Sie sagten schon, dass die DEGAM-Leitlinie zu einer S2E-Leitlinie wurde. Und das Infektionsschutzgesetz wurde geändert. Impfpflicht ab März 2022 für Personen, die in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen tätig sind.
Nößler: Bis 15. März nachzuweisen.
Scherer: Korrekt. Wir hatten dann auch eine Diskussion innerhalb unserer Fachgesellschaft und darüber in diesem Rahmen auch sehr intensiv berichtet. Aber darf ich Sie jetzt mal fragen: Ihr Fazit?
Nößler: Von dem Jahr? Oder von der S2e-Leitlinie?
Scherer: Erst mal vom Dezember und von dem Jahr.
Nößler: Ich würde fast sagen, der Dezember war die Zusammenfassung des gesamten Jahres. Im Dezember noch mal das gesamte Jahr in sich verdichtet, nämlich von der Art und Weise wie das alles läuft, nämlich gar nicht. Und immer alles hopplahopp und alles ganz schnell und alles unabgestimmt. Also ich habe irgendwie das Gefühl gehabt, noch mal richtig im Dezember, vielleicht auch im November, das fliegt uns hier alles um die Ohren, die Art und Weise wie das läuft. Nämlich teilweise gar nicht, teilweise unabgestimmt. Mein Eindruck im Dezember war: Jetzt sind wir alle fertig miteinander, so richtig k.o.
Scherer: Und wir sind doch dann auch geboostert worden. Ich darf das hier sagen, weil Sie das auch einmal erzählt haben im EvidenzUpdate.
Nößler: Genau. Ich habe das gemacht, was man eigentlich nicht hätte tun sollen, nämlich eigentlich die Schwachen und die mit Vorerkrankungen vorzulassen. Habe mich boostern lassen. Und das war im Dezember für mich auch wieder so ein Beispiel, wie Deutschland eben Deutschland ist. Man braucht 90 Minuten für eine Impfung. Und in diesen 90 Minuten muss man an zehn verschiedenen Stellen 20 A4-Seiten unterschreiben und abstempeln lassen. Das ist doch absurd, Herr Scherer.
Scherer: Sagen Sie mir noch mal, wann das ungefähr war. Ich glaube, es war Anfang Dezember. Die KBV hat dann auch irgendwann die erlösende Mitteilung gemacht, dass keine schriftliche Aufklärung mehr erforderlich ist. Das war wirklich eine Verbesserung. Man hat dann auch beim Boostern noch immer mit vier Zetteln hantiert, zwei Aufklärungsbögen, auf denen man unterschreiben musste, Patienten/-innen und Ärzte/Ärztinnen. Und dann aber auch noch mal ein zusätzliches Einwilligungsschreiben. Allein diese vier Zettel nicht mehr zu haben, das war schon mal auch eine Erleichterung. Und Bürokratie, wir hatten es anfangs gesagt, das war der rote Faden. Die Bürokratie, die müssen wir besser in den Griff kriegen. Also viel weniger Zettel. Das waren Reibungsverluste.
Nößler: Es macht einen närrisch. Und es behindert de facto ja Versorgung oder es verlangsamt Versorgung. Oder es verlangsamt Versorgung.
Scherer: Ja, man hat dann auch diese schriftlichen Einwilligungen und heftet die ab. Punkt.
Nößler: Richtig. Und erst mal mit Blick auf das Thema e-Rezept, e-AU, ePA, da gibt es unter den Hörerinnen und Hörern, das wissen wir, sehr viele, die sehr kritisch einer ePA gegenüberstehen. Aber wenn man sich überlegt, wie cool ein gutes datenschutzkonformes Tool sein könnte, um eine Impfung beispielsweise zu dokumentieren und man rennt dann eben nicht mehr mit Zetteln rum. Haben Sie die Hoffnung, dass wir das irgendwann mal bekommen?
Scherer: Die kann man zu recht haben. Das wird auch irgendwann kommen, vielleicht sogar schneller als erwartet. Aber jetzt sind Sie tatsächlich durch den gesamten Jahreslauf mit mir gegangen, bis Ende Dezember, ohne einmal das Wort Omikron in den Mund zu nehmen. Wie kommt das denn?
Nößler: Weil vielleicht die ganzen Absurditäten, über die Sie gesprochen haben, Herr Scherer, den Blick so ein bisschen verstellt. Wenn man doch damit beschäftigt ist, Herr Scherer, das können Sie jetzt beantworten, sich mit Bürokatismen auseinandersetzen zu müssen, mit nicht funktionierenden Dingen, die man tun sollte, dann hat man vielleicht gar keinen Ohr mehr für Omikron.
Scherer: Das muss man dann aber doch haben, weil Omikron natürlich wieder ganz viele Fragen gebracht hat und uns in dem Wissen wieder um Monate zurückversetzt hat. Also wie schaut es mit der Impfeffektivität aus? Wie gefährlich ist Omikron? Welche Verdopplungszeiten werden wir hier in Deutschland haben und so weiter. Also wieder ganz, ganz grundlegende Fragen, die uns diese neue Variante gebracht hat.
Nößler: Es fühlt sich so ein bisschen an – wo Sie B.1.1.529 ansprechen, die Omikron-Variante –, als würden wir in der Pandemie bei null beginnen, oder? Es gibt wahnsinnig viel an Material momentan, das publiziert wird. Oftmals Petrischalen-Evidenz, aber immerhin. Wir können mal eine kleine Auswahl verlinken. Wenn wir die jetzt im Detail besprechen, brauchen wir noch eine Stunde. Aber das Bild, das sich so zusammenfügt, ist, abgeschlossene Impfserie, Herr Scherer, interessiert Omikron nicht wirklich. Erst wenn man ein Booster reingibt, hilft es was. Wenn wir jetzt mal so ein bisschen nach vorne schauen, wird es so eine Art Variantenwettlauf geben? Oder machen wir künftig alle sechs Monate ein Booster?
Scherer: Dass immer wieder neue Varianten kommen werden, das ist ziemlich erwartbar. Und dass sich COVID auch im Laufe der Zeit abschwächen wird in der Krankheitslast, unter anderem auch durch immer neue wirksamere Impfstoffe, das ist, glaube ich, auch zu erwarten. Die Behandlungsmöglichkeiten, die nehmen zu. Also ich würde jetzt mal, um den Ausblick auf das neue Jahr zu wagen, erwarten, dass die Erkrankung an sich ihren Schrecken, zumindest zum Teil verlieren wird. Obwohl ich so Sachen überhaupt gar nicht gerne mag, so Prognosen. Jetzt habe ich mich dazu hinreißen lassen. Man sehe es mir nach.
Nößler: Dann machen wir eine Kursivstellung dieser Aussage. Aber mal mit Blick auf das Thema Booster: Welchen Booster würden Sie sich eigentlich wünschen jetzt als zweiten oder dritten? Wieder in den Deltamuskel oder vielleicht dann doch mal eine ordentliche Infektion, mit Blick so auf Ihre Schleimhaut?
Scherer: Manch einer kann es sich nicht aussuchen. Weil für einige die Infektion vor dem Booster kommt, im Zweifel würde ich mich immer für die nicht-infektiöse Variante entscheiden, wenn ich die Wahl habe.
Nößler: Gut. Also, wir werden sehen, wie das mit dem Boostern wird im nächsten Jahr. Jetzt müssen wir tatsächlich auch mit Blick auf Omikron und die Möglichkeit, dass es da Impfdurchbrüche gibt, auf eine andere Sache schauen. Und zwar hat in dieser Woche, Herr Scherer, Bundesminister Karl Lauterbach angekündigt, das war am Dienstag, dass er 1 Million Packungen Paxlovid gekauft hat. Das ist eine Kombination, eine orale Kombination von Pfizer, in Deutschland sagt man auch manchmal Pfitser dazu. Und er hat auch angekündigt, dass sich das BfArM, das ist unsere deutsche Arzneimittelbehörde, sich mit einer Notfallzulassung für diese Substanz beschäftigen soll. Das heißt, es könnte dafür eine geben demnächst, könnte. In den USA gibt es die seit der Woche vor Weihnachten. Herr Scherer, wir müssen uns dieses Präparat anschauen, weil es anders als die Präparate, über die wir zuletzt mal gesprochen hatten, eben ein echtes orales Arzneimittel ist, das wirft man ein, zu Hause auf der Couch. Was versprechen Sie sich von dieser Kombination?
Scherer: Wir sind da zurückhaltend. Wir geben zu bedenken, dass die Erwartungen an dieses Medikament zum einen die Impfmotivationen beeinträchtigen könnten und zum anderen halten wir die Effekte oder die Wirksamkeit dieses Medikaments noch lange nicht für ausreichend belegt.
Nößler: Es gibt bis heute keine original publizierte Arbeit dazu.
Scherer: Es gibt keine wissenschaftliche Publikation zur Wirksamkeit vor. Und auf Daten aus Pressemitteilungen können wir keine Empfehlungen aufbauen, schon gar nicht für diesen gigantischen Bereich der hausärztlichen Versorgung. Also da sind einfach zu viele Fragen offen. Und dann kommen wir sicherlich noch auf die Einschlusskriterien zu sprechen. Das ist eine riesige Gruppe von Menschen.
Nößler: Ich würde sagen, gehen wir gleich drauf ein. Weil wir haben ja immerhin – Herr Scherer, wir können uns mit den FDA-Daten beschäftigen. Da können wir gleich mal durchmarschieren. Mich würde zunächst einmal interessieren – das müssen wir vielleicht auch für die Hörerinnen und Hörer noch mal kurz erklären –, um was es sich da handelt. Also das Paxlovid, ist der Markenname, ist eine lose Kombination, keine Fixkombination von zwei Wirkstoffen. Das eine ist Nirmatrelvir, das ist der neue Wirkstoff, und der wird kombiniert gegeben mit Ritonavir, den kennen die Hörerinnen und Hörer. Und zwar Applikation: für fünf Tage 2 x 3 Tabletten pro Tag im Abstand von 12 Stunden. Und es soll wohl so sein, dass das in Form eines Blisters vorliegt, wo für diese fünf Tage direkt diese Tabletten drin sind, immer zwei Tabletten mit Nirmatrelvir plus eine Tablette Ritonavir. So steht es in der FDA-Info. Was wissen wir denn über diese beiden Stoffe? Wie gesagt, Ritonavir, Herr Scherer, ist bekannt, aber der andere, was wissen wir über den?
Scherer: Nirmatrelvir, das ist eine Weiterentwicklung von Rupintrivir. Das ist ein Medikament, das bereits in früheren klinischen Studien zur Behandlung von Rhinovirus-Infektionen getestet wurde. Ein Inhibitor viraler Proteasen. Da haben wir auch eine Referenz, glaube ich. Und Nirmatrelvir ist ein Inhibitor, der 3CL-Proetase. Sie wird auch SARS-CoV-2-Hauptprotease genannt, also M-pro oder NSP5-Protease.
Nößler: Oje (lacht).
Scherer: Entschuldigung. Aber vielleicht kann man sagen, durch die Hemmung kann M-pro die Polyprotein-Vorstufen nicht mehr verarbeiten, wodurch dann die Virusreplikation verhindert wird. Soweit verständlich?
Nößler: Ich komme mit. Also einfach formuliert: Das Ding hemmt eine Protease, die Proteine zerschnipselt, die das Virus brauchen, um sich zu replizieren.
Scherer: Richtig. Und Sie haben es schon gesagt – Sie würden sagen „gespoilert“ – Nirmatrelvir wird in Kombination mit Ritonavir gegeben. Und Ritonavir ist wiederum ein CYP3A4-Inhibitor und hemmt die Verstoffwechselung von Nirmatrelvir. Damit wird der Wirkspiegel wiederum erhöht. Soweit erst mal.
Nößler: Und Ritonavir kennen wir aus der HIV-Therapie, Protease-Inhibitor.
Scherer: Genau.
Nößler: Und das Thema CYP3A4, da ist natürlich ein großes Ausrufezeichen dahinter. Wenn ich das richtig verstanden habe, Herr Scherer, der wird dazugegeben, damit der andere Protease-Inhibitor länger verfügbar bleibt und länger wirken kann. Aber CYP3A4, da ist ja Obacht angezeigt, oder?
Scherer: Ja. Und vor allem bei wem? Also das Ritonavir ist ein starker Inhibitor von CYP3A4 und interagiert mit P-Glykoprotein. Und das wiederum bedeutet, dass man bei der Einnahme ganz stark auf Arzneimittelinteraktion achten muss beziehungsweise andere Medikamente aussetzen muss oder sich überlegen muss, welches Arzneimittel prioritär eingesetzt wird. Das könnte zum Beispiel interagieren mit Antihistaminika, Antimykotika, Kalziumantagonisten, Neuroleptika, Opioide, Statine, Steroide – eine ewig lange Liste, bis hin zu trizyklischen Antidepressiva und Vitamin-K-Antagonisten. Und da sind wir dann auch schon bei einem Problem. Wenn wir dann so eine große Gruppe von Patienten haben mit einer sehr breiten Palette von Einschlusskriterien in der Zulassungsstudie, was wiederum eine Masse von Begleiterkrankungen bedeutet und auch vorhanden Begleitmedikation, dann sitzen wir da und müssen in der Versorgung gucken: Ja, wie klappt das jetzt, wie passt das zusammen, was setze ich prioritär ein. Das macht die Sache nicht einfacher.
Nößler: Und ich sage mal, auch wenn es nur für fünf Tage ist bei ausgewählten Patienten, Marcumar abzusetzen, muss ja auch nicht die beste Entscheidung sein.
Scherer: Nein, überhaupt nicht. Und da muss man auch noch mal gucken, was ist die Indikation. Also Paxlovid soll nicht eingesetzt werden zur Pre- oder Postexpositons-Prophylaxe, es soll bei leichten Verläufen eingesetzt werden nach gesicherten Tests und bei erwachsenen Personen in erster Linie. Oder bei 12-Jährigen, die mindestens 40 kg wiegen – und jetzt kommt die Einschränkung – und ein erhöhtes Risiko haben für einen schweren Verlauf, aber noch nicht so schwer erkrankt sind, dass sie hospitalisiert werden müssen. Also es ist auf jeden Fall kompliziert.
Nößler: Und es ist definitiv, es ist zumindest in der US-Zulassung so, und das kann ja ein bisschen Vorbild auf das BfArM und EMA sein – eine ausschließlich ambulante Therapie.
Scherer: Ausschließlich ambulante Therapie. Richtig.
Nößler: Jetzt haben Sie schon Gegenanzeigen angesprochen, da sind wir dann in der allgemeinmedizinischen Praxis, in der internistischen Praxis, wo gewisse Komorbiditäten dann gehandelt werden müssen, die ja durchaus Risikofaktoren sein können für einen schweren Verlauf. Da wird es schon spannend. Das Thema Effektivität müssen wir uns angucken. Oder nein, zumindest das, was wir über die Zulassungsdaten wissen aus den USA. Wenn ich ein New-Times-Bericht richtig gelesen habe, dann kostet die Therapie dort 530 US-Dollar pro Zyklus, also pro Woche. Ich glaube, die USA hat 10 Millionen Einheiten gekauft, also Behandlungszyklen für 5,3 Milliarden US-Dollar. Also kann man nachrechnen, 530. Muss man mal gucken, was es in Deutschland kostet. Was wissen wir denn über den Trial, Herr Scherer?
Scherer: Phase 2/3, randomisiert, doppelblind, placebo-kontrollierter Versuch bei nicht hospitalisierten symptomatischen Patientinnen und Patienten mit einer laborgesicherten Infektion von SARS-CoV-2, die Einschlusskriterien, Sie hatten es schon angesprochen, sehr breit, Adipositas, Alter über 60, chronische Lungenerkrankung, chronische Nierenerkrankung, Diabetes mellitus, Immundefizienz oder Suppression, kardiovaskuläre Erkrankung, Krebserkrankung, Raucher/-innen und andere Risikofaktoren. Und das bedeutet, dass wir dann wirklich auch eine Gruppe haben mit einer großen Palette an Begleitmedikation und dann das Interaktionsthema wieder relevant wird. Die Studie schloss Personen mit einer früheren COVID-19-Infektion oder Impfung aus. Und der primäre Endpunkt war der Anteil der Patientinnen und Patienten mit COVID-19-bedingtem Krankenhausaufenthalt oder Tod jeglicher Ursache bis zum Tag 28. Das heißt die All-cause Mortality bis Tag 28.
Nößler: Also kombinierter Endpunkt.
Scherer: Genau.
Nößler: Und es sind so 2.000 Probanden Pi mal Daumen gewesen.
Scherer: Es waren über 2.220 Patientinnen und Patienten, die randomisiert wurden und entweder Paxlovid oder Placebo erhielten. Und im Durchschnittsalter waren die so 46 Jahre zu Beginn, ungefähr die Hälfte männlich, 72 Prozent waren Weiße und so weiter.
Nößler: Das mit dem Durchschnittsalter ist interessant. 46, da war jetzt die Tage in den Medien, dass Suhl in Thüringen wohl die älteste Stadt Deutschlands ist, im Mittel 48 und Offenbach, Heidelberg und Freiburg, das sind die drei jüngsten Städte mit 40. So gesehen, könnte es ja ganz gut passen mit dem mittleren Alter aus der Studie. Effektivität, Herr Scherer, das ist die entscheidende Frage. Sie haben schon gesagt, wir haben mit Phase-2/3-Studien vorliegen. Wie gesagt, die Informationen, das verlinken wir, kommt alles aus den FDA-Daten, es gibt noch keine Publikation. Was weiß man denn über die Effektivität?
Scherer: Wir hatten in jeder Gruppe gut 1.000 Menschen, in der Paxlovid-Gruppe 1.000, in der Plecebo-Gruppe 1.000. Und die, die in der Paxlovid-Gruppe ins Krankenhaus gekommen sind, waren 8 von 1.039. Und in der Placebo-Gruppe sind es 66 von 1.046 ins Krankenhaus gekommen. Das heißt, die Hospitalisierung bei Placebo 6,3 Prozent, bei Paxlovid nur 0,8 Prozent. Und in der All-cause Mortality sah es so aus, dass in der Paxlovid-Gruppe niemand verstorben war und in der Placebo-Gruppe 12. Was aber bei dieser Fallzahl von über 1.000 Probanden/-innen auch nur in Anführungszeichen 1,1 Prozent war. Und wie ich Sie kenne, wollen Sie jetzt bestimmt die NNT wissen.
Nößler: Ja. Vielleicht interessant, Herr Scherer, bevor Sie die NNT ausrechnen, das würde mich natürlich total interessieren: Es ist in den Medien immer die Rede von: Ja, das Ding wirkt zu 90 Prozent. Also das ist dann so die verkürzte relative Risikoreduktion von 88 Prozent, die hier vorliegt. Unterm Strich haben wir eine absolute Risikoreduktion von 5,5 Prozentpunkten.
Scherer: Richtig, genau. Und die absolute Risikoreduktion, aus der kann man dann wieder die NNT ableiten. Die liegt bei der Krankenhauseinweisung bei 18, ich muss 18 Patientinnen und Patienten mit Paxlovid behandeln, um bei einem die Krankenhauseinweisung zu verhindern. Beim Endpunkt Tod sind es 90.
Nößler: Das heißt, weil die All-cause Mortality, das springt einen richtig an. 0 versus 12. Das heißt, man könnte jetzt einfach sagen: Ey, da hat man 12 Menschen statistisch das Leben gerettet. Das klingt ja erst mal beeindruckend, wenn man das so sieht in der Tabelle.
Scherer: Muss trotzdem 90 mit dem Medikament versorgen, um einem das Leben zu retten.
Nößler: Und immer mit dem Risiko für Side Effects beispielsweise.
Scherer: Richtig. Und alles unter dem Vorbehalt, dass es noch keine hochrangige peer-reviewte frei zugängliche Publikation dazu gibt.
Nößler: Ich glaube, ein Vorbehalt ist auch noch wichtig, die Studienpublikation, die war nicht Omikron ausgesetzt. Die müsste überwiegend Delta ausgesetzt gewesen sein.
Scherer: Richtig. Dass wir wieder die Frage haben: Are these data applicable to my patient.
Nößler: Das können wir nicht beantworten.
Scherer: Das werden höchstwahrscheinlich dann jetzt in den nächsten Wochen und Monaten Omikron-Patienten/-innen werden.
Nößler: Ich habe in irgendeinem Bericht gelesen, dass Pfizer eine zusätzliche Studie auflegen will, wo sie das eben jetzt weiter testen, weiter analysieren. Auch angesichts Omikron. Aber das wird halt dauern, bis man das ein bisschen hat. Diese Substanz ist ja noch nicht Teil der Leitlinie der DEGAM. Dort wissen wir, gibt es Kann-Empfehlungen für zwei Antikörperpräparate. Einer davon ist durchaus aus subkutan applizierbar, also könnte ambulant ein Thema sein. Wenn Sie jetzt diese Daten aus den USA zusammenfassen. Könnte das ein Kandidat für eine Kann-Empfehlung in der DEGAM-Leitlinie werden?
Scherer: Das ist sehr hypothetisch.
Nößler: Fahrradkette.
Scherer: Möglich ist es. Aber müssen wir prüfen.
Nößler: Und Stand jetzt: Würden Sie Fragezeichen noch äußern, als dass Sie da jetzt himmelhochjauchzend durch die Welt spazieren.
Scherer: Dafür gibt es einfach zu viele Wirkstoffkandidaten, die wie eine Sternschnuppe am Himmel vorbeigezogen sind. Erinnern Sie sich an das Molnupiravir und viele andere, über die wir sprachen, über die wir heute nicht mehr sprechen. Das bleibt abzuwarten. Und dann noch mal mit dem Vorbehalt, wie funktioniert es eigentlich bei der aktuell relevanten Variante. Wir wissen ja, dass bei Omikron beispielsweise die monoklonalen Antikörper bei Weitem nicht so gut funktionieren wie bei Delta. Also das macht ja die Lage auch deutlich schwieriger, welche Variante ist gerade dominant.
Nößler: Das ist in der Tat ein Befund auch der Arbeiten, die wir verlinkt haben, der neueren Arbeiten. Wie gesagt, das sind alles überwiegend Petrischalen-Evidenzgeschichten. Aber da wird fast durchgängig gezeigt, dass diese Antikörpertherapien gegen Omikron versagen. So gesehen muss man eigentlich wachsam bleiben. Herr Scherer, eineinhalb Stunden 2021 Reprospektive, 2022 Ausblick mit Paxlovid und Omikron. Es könnte an der Zeit sein, einen Punkt zu machen und in den Silvestertag und das neue Jahr zu starten. Wie geht es nächstes Jahr weiter, Herr Scherer, mit uns, mit der Gesellschaft, mit Corona und mit der nächsten EvidenzUpdate-Episode?
Scherer: Das Einfachste ist, glaube ich, zu beantworten, wie es mit uns weitergeht. Wir machen weiter, Punkt 1.
Nößler: Erledigt, okay.
Scherer: Punkt 2: Wie geht es mit der Gesellschaft weiter? Das ist wahrscheinlich die schwierigste Frage. Hier haben wir einige Baustellen. Und ich kann nur hoffen, dass wir da als Gesellschaft eine Form des Umgangs finden, die die Sorgenfalten auf der Stirn doch wieder ein bisschen glattzieht. Im Augenblick ist die Polarisierung zwischen Geimpften und Ungeimpften und auch die Diskussion und die Härte, zum Teil auch innerhalb der Ärzteschaft etwas, was mir wirklich Sorgen macht. Wir hatten das Thema zu Hauf, aber das wäre falsch, am Ende des Jahres nicht noch mal darauf zu sprechen zu kommen. Also hier haben wir auf jeden Fall eine Baustelle. Und was Omikron bringt, das werden wir sehen müssen. Ich habe schon den Eindruck, dass die Bundesländer sehr gut reagiert haben. Ich glaube auch, dass die allermeisten Bürgerinnen und Bürger verstanden haben, worauf es jetzt ankommt. Und dass wir uns auch auf die Vernunft der Allermeisten ein Stück weit verlassen können. Da vertraue ich einfach mal drauf und gucke deshalb nicht allzu pessimistisch ins neue Jahr.
Nößler: Mit Zuversicht gucken Sie ins neue Jahr. Das höre ich so ein Stück weit raus. Gut, Herr Scherer, dann wollen wir mit Zuversicht ins neue Jahr gehen. Erst einmal tausend Dank für diesen doch etwas nicht ganz kurzen Jahresrückblick, für das gemeinsame Revue-passieren-lassen und natürlich für ein schönes zweites Jahr EvidenzUpdate-Podcast, das wir hier gemeinsam machen konnten. Es war mir immer wieder eine Freude, diese Gespräche zu machen. Und ich freue mich auf das kommende Jahr, wenn wir das fortsetzen. Wir können uns auch bei den Hörerinnen und Hörern bedanken, dass sie uns so wunderbar ertragen in diesem Jahr und uns treu bleiben. Und doch auch immer wieder mit interessanter, auch durchaus kritischer Replik auf das eine oder andere Thema begegnen und uns Hinweise geben. An der Stelle noch einmal der Tipp für alle: evidenzupdate@springer.com, da erreicht man uns verlässlich und kann gerne Einreichungen platzieren, Kritik, Hinweise, Wünsche. Herr Scherer, ich freue mich auf das kommende Jahr. Rutschen Sie gut und gesund ins kommende Jahr. Bleiben Sie fröhlich. Bleiben Sie gesund und fröhlich. Ja, dann wird es ein tolles drittes EvidenzUpdate-Postcast-Jahr.
Scherer: Ja, das hoffe ich auch. Darauf freue ich mich auch. Lassen Sie mich noch drei Dankeschöns loswerden, wenn es den Plural überhaupt gibt. Einmal an die Hörerinnen und Hörer, die uns die Treue gehalten haben. Und diejenigen, die uns viele hilfreiche und freundliche, konstruktive Rückmeldungen gegeben haben. Ein Dankeschön an die vielen Gäste, die wir hatten, die den Podcast immer wieder bereichert haben. Und vor allem an Sie, lieber Herr Nößler, für die hervorragende Zusammenarbeit. Und eine Wissenschaftsjournalismus, wenn ich das so sagen darf, der sich doch auf einem recht hohen Niveau bewegt. Das müssen Sie erst mal aushalten.
Nößler: Das halte ich aus. Das ehrt uns beide. Ich glaube, es gelingt nur zu zweit. Vielleicht können wir eine Sache cliffhangern. Normalerweise frage ich Sie immer wie es weitergeht. Ich glaube, Sie haben das Thema längst genannt mit Blick auf Omikron, da wird so viel passieren. Aber vielleicht kann ich mal ein Cliffhanger machen. Und zwar haben wir entschieden, dass wir künftig jede Episode vom EvidenzUpdate transkribieren wollen. Das ist dann so unser Geschenk zum neuen Jahr an die Hörerinnen und Hörer.
Scherer: Das ist ein Geschenk. Das war eine Rückmeldung, die sehr oft kam, die ich auch gut nachvollziehen kann, wenn man jetzt nicht gerade joggt oder eine längere Autofahrt hat, dann ist es schon natürlich mühsam, sich dann immer diese 50 Minuten da reinzuziehen. Aber so einen Text, den kann man einfach mal überfliegen. Das sind viele gewohnt, längere Texte einfach mal so quer zu lesen oder diagonal zu lesen. Da kann man doch mal sehen, was wurde da besprochen. Und das könnte auch eine Zeitersparnis sein. Ich freue mich jedenfalls, dass wir diese Option jetzt auch haben.
Nößler: Und vor allem kann man drin suchen. Man kann suchen nach Stichworten, großartig.
Scherer: Man muss aber erst in ein Worddokument kopieren, oder?
Nößler: Nein, das geht auch im Webbrowser. Da kann man, je nachdem, womit man arbeitet. Ich habe Mac, da drücke ich Apfel F, dann geht so ein Suchfenster im Webbrowser auf. Und bei Windows drückt man, glaube ich Strg F und dann geht im Webbrowser so ein kleines Suchfensterchen auf. Und dann kann man einen Begriff eingeben. Das geht ganz gut.
Scherer: Wieder was gelernt.
Nößler: Wieder was gelernt. Also, Tipp an alle Hörerinnen und Hörer: Ein paar Episoden sind schon transkribiert. Wir machen das vor allem prospektiv. Ich glaube, wir gehen bis einschließlich in den November retrospektiv. Und dann aber jede künftige Episode, inklusive Dezember wird transkribiert. Freuen Sie sich darauf. Freuen Sie sich auf das nächste Jahr. Bleiben Sie gesund, bleiben Sie fröhlich! Ein schönes Ahoi! Ein gutes neues Jahr von Martin Scherer und mir. Tschüss!
Scherer: Tschüss!
Quellen
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- Robbins R, Zimmer C. F.D.A. Clears Pfizer’s Covid Pill for High-Risk Patients 12 and Older. The New York Times. 2021. www.nytimes.com (accessed 30 Dec 2021).