Gesundheitsforschung
Märchenstunde hilft Demenzkranken
Wenn Demenz- und Alzheimerpatienten Märchenerzählungen zuhören, können sie sich für einen Moment entspannen. Diese Beobachtung will die Berliner Pflegewissenschaftlerin Ingrid Kollak nun wissenschaftlich unterlegen. Zwischenbilanz einer ungewöhnlichen Gesundheitsforschung.
Veröffentlicht:BERLIN. Die Seniorin hatte sich abgemeldet. Nein, bei der Märchenstundean diesem Nachmittag wollte sie nicht dabei sein, hatte sie der Pflegerin im Berliner Katharinenhof gesagt. Der Märchenerzählerin Silvia Ladewig ließ sie ausrichten, dass es ihr nicht gut gehe.
Dann aber stand die Mittsiebzigerin doch in der Tür. Silvia Ladewig hatte gerade mit der Geschichte von den "Bremer Stadtmusikanten" begonnen. Die demenzkranke Frau schritt entschlossen nach vorne und ließ sich in einen Polstersessel fallen.
Sie habe Sehnsucht gehabt, raunte sie der Märchenerzählerin zu und verfolgte dann mit wachen Augen das Geschehen auf der Bühne im Speisesaal ihres Pflegeheimes.
Die Märchenstunde im Katharinahof am Berliner Preußenpark ist Teil eines ungewöhnlichen Forschungsprojektes. Professor Ingrid Kollak will mit ihrem Team von der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin herausfinden, ob und wie die Märchen wie etwa jenes der Gebrüder Grimm auf Menschen mit einer Demenz- oder Alzheimererkrankung wirken.
Die Pflegewissenschaftlerin setzt das Vorhaben zusammen mit "Märchenland" um, einer gemeinnützigen GmbH, die die Kultur des Märchenerzählens bewahren will.
Aschenputtel und Dornröschen
"Das Herz wird nicht dement", sagt Märchenerzählerin Ellen Engelhard. Von Oktober 2013 bis März 2015 hat sie gemeinsam mit Silvia Ladewig und Marlies Ludwig in fünf Pflegeeinrichtungen in vier verschiedenen Bundesländern Märchen erzählt - von Tischlein deck dich, Dornröschen und Aschenputtel oder eben von den Bremer Stadtmusikanten.
Das ungewöhnliche Publikum kam bei Ellen Engelhard sehr authentisch an. Die Alzheimer- und Demenzpatienten, so sagt sie, reagieren einfach ohne viel Nachdenken. Ein aufkommendes Gefühl drücken sie sofort aus.
Wenn es in der Erzählung dunkel und finster wird, konnte man ein Bibbern im Publikum hören. Und wenn vor Freude getanzt wird, juchzen die betagten Zuhörer mit.
Insgesamt 63 Pflegebedürftige haben in Berlin und Hamburg einmal die Woche zugehört. Die Älteste war Jahrgang 1919, die Jüngste 1968. Unter ihnen war eine Straßenbahn-Schaffnerin ebenso wie der Apotheker oder Chirurg.
Die Bremer Stadtmusikanten zählte für viele von ihnen zu den Lieblingsmärchen.
Mit der Geschichte von den vier betagten Tieren, die aus ihrem Zuhause vertrieben wurden und in einem Räuberhaus wieder heimisch werden, können sich viele der Alten- und Pflegeheimbewohner identifizieren, vermutet Diane Dierking, Projektleiterin bei "Märchenland".
Sie habe oft beobachtet, wie die Demenzkranken sich in die Geschichten versenkten und für einige Minuten bis wenige Stunden aus ihren Verhaltensschemata ausstiegen.
Unruhige Dauerläufer blieben sitzen und hörten zu. Jene, die andauernd kauten und schmatzten, vergaßen ihre Nervosität und entspannten sich für einen Moment. Dierking glaubt, dass die uralten Erzählungen eine gesunde Wirkung auf Menschen mit Demenz oder Alzheimer haben. Märchenland-Direktorin Silke Fischer verweist auf die besondere Erzählstruktur und das kulturelle Vermächtnis der Märchen, die den Kranken helfe.
Märchen seien "geronnene Menschheitsgeschichte". Sie regten die Fantasie an, vermittelten ethische Werte und ermutigten selbst in scheinbar ausweglosen Situationen nicht aufzugeben. Zudem sorgten die Märchen selbst und auch das Erzählen dafür, dass ein Gemeinschaftsgefühl entstehe.
Fördergeld vom Ministerium
Der Berliner Senat und das Bundesfamilienministerium haben das Projekt mit rund 430 000 Euro gefördert. Jetzt gilt es das, was in solchen Märchenstunden zu beobachten war, wissenschaftlich auszuwerten.
Die Märchenstunden wurden als Videos aufgezeichnet und einzelne Szenen fotografiert. Die beteiligten Erzählerinnen, Pflegekräfte und Projektmitarbeiter wurden als Experten interviewt. Und wo immer möglich wurden auch die Teilnehmenden nach ihren Empfindungen gefragt.
Anhand des Materials sollen das Beziehungsgeflecht und die Interaktionen entschlüsselt werden, die die Märchen unter den Zuschauern ausgelöst haben. "Wir vermuten, dass das Märchenerzählen das herausfordernde Verhalten der Betroffenen mildern und dämpfen kann", sagt Kollak.
Viele der Patienten machten dauernd Laute, wollten unentwegt laufen, seien einmal hochaggressiv und dann wieder lethargisch. Das könne den Alltag in den Pflegeheimen lahmlegen: "Für viele Pflegende ist das ein Problem, denn sie wissen im Grunde nicht, wie sie damit umgehen können", sagt Kollak. "Das Märchenerzählen wirkt über die Gefühle, die das strukturierte Erzählen auslöst", mutmaßt sie.
Die Menschen erinnerten sich an das, was war und an ihre Kindheit. Die eigene Lebensgeschichte lasse sich einordnen. Der Wirrwarr im Kopf werde unterbrochen. Vielleicht lassen sich daraus auch, so Kollak, Handlungsempfehlungen entwickeln, wie professionell Pflegende im Alltag adäquat auf ihre schwierigen Patienten reagieren könnten.
Ob dies gelingt, wird sich Anfang September zeigen. Dann sollen die wissenschaftlichen Ergebnisse auf dem Demographie-Kongress präsentiert werden.