Sucht
„Lifestyle-Paragraf“ behindert Raucherentwöhnung
Medikamente zur Raucherentwöhnung sind laut SGB V nicht erstattungsfähig. Das sei grundgesetzwidrig, hat ein Rechtsgutachten ergeben.
Veröffentlicht:Tübingen. Ärzte und psychologische Psychotherapeuten müssen in die Lage versetzt werden, Tabakentwöhnung als Therapie leitliniengerecht einzusetzen, fordert der wissenschaftliche Aktionskreis Tabakentwöhnung e.V. (WAT).
Bestimmungen im Sozialgesetzbuch (SGB) V verhindern das, weil dort Arzneimittel zur Linderung des Entzugssyndroms Lifestyle-Medikamenten zugeordnet werden, die „lediglich der Erhöhung der Lebensqualität dienen“.
Der WAT um seinen Vorsitzenden Professor Anil Batra, Universität Tübingen, hatte dazu ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das die Auffassung vieler Pneumologen und Psychotherapeuten in Bezug auf die Tabakentwöhnung stützt, berichten Batra, der Pneumologe Dr. Thomas Hering aus Berlin sowie der Psychotherapeut Professor Stephan Mühlig aus Chemnitz (DMW 2020; 145: 268-270).
„Staat verletzt seine Schutzpflicht“
Laut Gutachten verletze der Staat seine Schutzpflicht, indem er die Nikotinsucht nicht als behandlungsbedürftige Krankheit ansehe – eine Sucht, die weitere Krankheiten zur Folge habe und die es zu verhüten gelte. Zugleich verstoße der Staat gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes: Während Menschen mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit unter anderem mit Arzneimitteln behandelt werden dürfen, würden Menschen mit Nikotinsucht „entgegen der klaren Evidenzlage“ davon ausgeschlossen.
Weiterhin, heißt es, werde gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot im SGB V verstoßen: Man müsse vor allem die langfristigen wirtschaftlichen Folgen einer Raucherentwöhnung betrachten. Schließlich könne der Ausschluss der Erstattungsfähigkeit nicht greifen, weil Medikamente zur Unterstützung der Tabakentwöhnung in der Regel nicht unter Lifestyle-Gesichtspunkten, sondern zur Krankheitsbehandlung verordnet würden.
Die angemessene Kostenerstattung der Tabakentwöhnung ist nach Ansicht des WAT umso bedeutsamer, als die Raucher-Prävalenz in Bevölkerungsschichten mit geringem Einkommen fast doppelt so hoch ist wie in bildungsnahen und ökonomisch bessergestellten Schichten. „Die unzureichende Kostenerstattung wird hier in besonders gravierender Weise zulasten der Bedürftigeren wirksam“, so Hering und seine Kollegen in ihrem Beitrag. Sie verweisen auf Erfolge in Großbritannien, wo der staatliche Gesundheitsdienst NHS die Verhaltenstherapie einschließlich notwendiger Medikation zur Tabakentwöhnung in vollem Umfang finanziert.
„Unterm Strich: Kostensenkung!“
Dass die Vollerstattung der Kosten die langfristige Abstinenz-Erfolgsquote steigert, ist in Studien nachgewiesen. Langfristig sei dann auch mit einer Reduktion vorzeitiger Todesfälle aufgrund von Bronchialkarzinomen, COPD und Myokardinfarkten zu rechnen sowie mit einer effektiven Lebenszeitverlängerung, meinen Hering und seine Kollegen. Unterm Strich sei eine Kostensenkung für das Gesundheitswesen zu erwarten.
Laut Deutschem Krebsforschungszentrum liegen die direkten Kosten des Rauchens für das deutsche Gesundheitssystem derzeit bei 25,4 Milliarden Euro jährlich, die indirekten Kosten, die der Volkswirtschaft durch tabakbedingte Krankheits- und Todesfälle entstehen, pro Jahr bei 53,7 Milliarden Euro.
Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hatte bei den Beratungen zum Bevölkerungsschutzgesetz II beantragt, den entsprechenden Passus im §34 Abs. 1 SGB V zu streichen. Der Bundestag hat diesen Antrag am 14. Mai 2020 abgelehnt. Eine seit Jahren laufende Initiative des WAT, auf verfassungsrechtlichem Wege eine Änderung zu erzielen, ist wegen eines ähnlichen, noch laufenden Verfahrens vorerst gestoppt.