Europäischer Gesundheitskongress

„Wir haben einen Corona-Dauerlauf vor uns“

Die zweite Coronawelle wird länger und mindestens sechs Monate dauern, mutmaßen Experten bei der Eröffnung des Europäischen Gesundheitskongresses. Dies wird finanzielle Folgen für das Sozialsystem haben, die insbesondere ein Umdenken bei der Klinikfinanzierung erfordern.

Rebekka HöhlVon Rebekka Höhl Veröffentlicht:
Medizinhistoriker Prof. Karl-Heinz Leven erklärt, warum die Medien eine wichtige Rolle in der öffentlichen Pandemie-Debatte spielen und auf emotionale Sprachbilder von Experten besser verzichtet werden sollte.

Medizinhistoriker Prof. Karl-Heinz Leven erklärt, warum die Medien eine wichtige Rolle in der öffentlichen Pandemie-Debatte spielen und auf emotionale Sprachbilder von Experten besser verzichtet werden sollte.

© WISO

München. Kliniken und Praxen in Deutschland sehen sich organisatorisch gut für die zweite Corona-Welle gerüstet. Man habe während der ersten Welle viel gelernt, sagte Professor Clemens Wendtner, Chefarzt an der München Klinik Schwabing.

Die zweite Welle werde aber länger dauern und härter werden, prognostizierte er bei der Eröffnungsveranstaltung des 19. Europäischen Gesundheitskongresses, der wegen Corona dieses Jahr erstmals rein digital stattfindet.

Die Pandemiestationen, die man im März, April aufgebaut habe und die im Sommer vom Netz hatten gehen können, würden jetzt wieder eröffnet, berichtete er. Auch in Sachen Schutzausrüstung stehe man wesentlich besser als zu Jahresbeginn da: „Wir haben Vorräte für die nächsten sechs Monate.“

Halten die Pflegekräfte durch?

Sorge bereiten gerade den Kliniken aber zwei andere Fragen: die Finanzierung der nächsten Monate und die personelle Ausstattung. Medizinisches Gerät alleine sei nutzlos, stellte Wendtner klar: „Es braucht die Schwester, den Pfleger, den Arzt, der das Gerät bedient und da braucht es auch die Motivation, durchzuhalten.“

Pflegekräfte und Ärzte müssten sich auf einen Langstreckenlauf vorbereiten, lautete auch die Einschätzung von Professor Götz Geldner, Präsident des Berufsverbands Deutscher Anästhesisten. „Wir werden sicherlich im nächsten halben Jahr mit Corona zu tun haben.“ Dabei registriere er leider gerade wieder einen Anstieg der Patienten auf der Intensivstation.

DAK-Chef: Duale Finanzierung nicht zu halten

„Wir haben in der Tat einen Dauerlauf vor uns“, unterstrich auch DAK-Chef Andreas Storm. Er würde den Zeitraum aber bis mindestens Ostern taxieren. Damit seien nicht nur Herausforderungen im Gesundheitswesen verbunden, Storm zeichnet auch gesamtgesellschaftliche Folgen. Wirtschaftlich werde die Bundesrepublik zum zweiten Mal eine konjunkturelle Delle erleben, was natürlich wiederum Konsequenzen für die Finanzlage des Sozialsystems habe.

Insbesondere die duale Finanzierung des Krankenhaussektors muss laut Storm mittelfristig überdacht werden. „Wenn die Länderhaushalte nach der Pandemie noch klammer werden als jetzt, ist die duale Finanzierung nicht mehr haltbar.“

Laut Storm sollte die Krise aber auch dazu genutzt werden, neue Ideen weiterzuentwickeln, insbesondere bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens müsste Deutschland noch einen Zahn zulegen. „Ich habe nicht verstanden, warum man die Tele-AU Ende Mai wieder abschaffen wollte“, erklärte er. Dies sei zum Glück korrigiert worden. Auch wenn das noch kein echtes Beispiel für Digitalisierung sei, „das war ein erster Schritt, wie wir ein stückweit Entlastung schaffen können“, sagte er.

Sachkosten nicht gedeckt

Die Klinikexperten machten zudem ihrem Unmut über den Rettungsschirm Luft. Dieser müsse nachjustiert und verlängert werden. „Wir haben schnell und unbürokratisch reagiert“, so Dr. Thomas Egginger, Vorstand der Kliniken Nordoberpfalz AG, mit Blick auf den Ausbau der Intensiv- bzw. Pandemieversorgung in den Häusern. Dabei hätten sich die Kliniken auf die Ankündigung des Bundesgesundheitsministers verlassen, dass sie sich keine Sorgen um die Finanzierung machen müssten.

Die Kliniken erwarteten nun, dass sie nicht auf den Sachkosten sitzen bleiben müssten. „Soll ich jetzt meinen Mitarbeitern sagen, ihr habt super Arbeit geleistet, aber ich muss 30 Stellen streichen, um die Sachkosten zu kompensieren? Das kann nicht sein“, so seine klare Botschaft. Durch die Isolationsmaßnahmen würden die Kliniken zudem insgesamt an Kapazitäten verlieren, müssten aber ja gleichzeitig fähig sein, den Normalbetrieb laufen zu lassen.

Reha-Kliniken weiter in Pandemieplan einbeziehen

„Wir werden sehr zügig einen gut funktionierenden Rettungsschirm brauchen“, schloss sich Thomas Bublitz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Deutscher Privatkliniken der Forderung an. Sonst würden das viele Kliniken wirtschaftlich nicht überleben.

Gleichzeitig forderte er, die rund 1200 Reha-Kliniken erneut in den Pandemieplan einzubeziehen. Damit könnten die Akutkrankenhäuser entlastet werden. Bublitz: „Wir haben da ein Überlaufbecken für den Regelbetrieb“, das gezeigt habe, das es funktioniere.

Vorsicht mit moralischen Appellen

Die zweite Welle braucht aber auch eine neue Art der Kommunikation und Maßnahmen. Der Medizinhistoriker Professor Karl-Heinz Leven warnte vor einer zu starken Moralisierung im öffentlichen Corona-Diskurs. Denn, das habe die Geschichte gezeigt, damit gingen schnell Schuldzuweisungen einher.

Ebenso mahnte er vor einer zu emotionalen Sprache, gerne würde in Zusammenhang mit Pandemien von einem Kampf oder Krieg gesprochen, so der Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, gerade auch von Medizinern. In beiden Fällen bestehe die Gefahr, dass man irgendwann nicht mehr das Virus als Feindbild habe, sondern es sich verschiebe auf den Träger des Virus.

„Phase gekennzeichnet durch Kontrollverlust“

Dennoch braucht es klare Ansagen der Exekutive, also des Corona-Managements. „Hier hat die Kanzlerin im Frühjahr einen großartigen Job gemacht“, sagte DAK-Chef Storm. Nun sei man aber an einem Punkt, an dem es eine andere Weise der Zusammenarbeit der politisch Verantwortlichen brauche. „Wir sind in einer Phase, die gekennzeichnet ist durch Kontrollverlust“, so Storm. Er teile die Einschätzung des Weltärztepräsidenten Professor Frank Ulrich Montgomery, der erst kürzlich gewarnt hatte, dass ab 20.000 Infizierten pro Tag die Nachverfolgung der Kontakte nicht mehr funktioniere.

Aber auch hier zeigt sich, dass die Pandemievorsorge lange im Schatten anderer Dinge vergessen wurde. „Erst in der aktuellen Krise wird in die Gesundheitsämter investiert“, kritisierte Kongresspräsident Ulf Fink, Senator a.D. In die Leistungsfähigkeit dieser Strukturen müsse im Sinne der Daseinsvorsorge nicht nur im Ausnahmezustand, sondern immer investiert werden. Gesundheit und Wirtschaft seien keine Gegensätze, wie sich nun deutlich zeige. Fink: „Gesundheit ist die maßgebliche Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg.“

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