Ist die Gesundheitskarte ein Auslaufmodell, oder gibt es einen Neustart 2010?

Der Regierungswechsel hat beim Projekt der elektronischen Gesundheitskarte einen besonders starken Bruch gebracht. Einst war die Karte das Lieblingskind von Ulla Schmidt, die FDP als Oppositionspartei war immer eher skeptisch. Noch ist keine klare Linie erkennbar, wie es mit der Telematik im Gesundheitswesen weiter gehen soll.

Hauke GerlofVon Hauke Gerlof Veröffentlicht:

Was will die schwarz-gelbe Koalition nur mit diesen Worten sagen? Kaum eine Passage im Koalitionsvertrag ist so kontrovers interpretiert worden und hat zu so großer Verwirrung geführt wie die zur weiteren Nutzung der Telematik im Gesundheitswesen. Die Befürworter der elektronischen Gesundheitskarte (eGK), immer noch des größten IT-Projekts in Deutschland, wenn nicht gar der Welt, setzten auf den im Text befürworteten Aufbau der Telematikinfrastruktur. Die Kartengegner sahen in der "Bestandsaufnahme", die sich die Koalitionäre verordneten, schon den Einstieg in den Ausstieg.

Die Verwirrung komplett machten manche Äußerungen der Mitglieder der neuen Regierung, die schließlich dazu führten, dass in den Medien tageweise abwechselnd die Schlagzeilen lauteten, "Regierung setzt weiter auf die elektronische Gesundheitskarte" oder "Neue Koalition schiebt die neue Karte ins Abseits".

Der Basis-Rollout ist im Oktober pünktlich gestartet

Immerhin: Der Basis-Rollout, also die Ausgabe der neuen Karte nach und nach in allen Regionen Deutschlands, mit Funktionalitäten, die kaum über die der guten alten Krankenversichertenkarte hinausgehen, ist im Oktober pünktlich gestartet. Doch schon bald nach dem Start zögerten einige Krankenkassen wegen der unsicheren Lage, überhaupt weitere Karten auszugeben. Schließlich kam das Okay aus Berlin: Der Basis-Rollout soll weitergehen. Nun stellte sich aber die Frage, ob das lediglich auf Nordrhein bezogen sei. Im "Handelsblatt" war erst kürzlich zu lesen, erst Ende 2011 solle die Ausgabe der Karten in den Regionen außerhalb Nordrheins weitergehen.

Anfang 2006 sollte die Karte ursprünglich kommen

Verzögerungen sind bei der elektronischen Gesundheitskarte schon beinahe Tradition. Rückblick: Politisch salonfähig wurde die Idee der eGK anlässlich der Probleme mit dem Cholesterinsenker Lipobay® (Cerivastatin) im Jahr 2001. Dahinter stand der Gedanke, dass Ärzte über einen Arzneimittelpass des Patienten Klarheit über die eingenommenen Medikamente gewinnen - und so Wechselwirkungen der Medikamente verhindern könnten.

Dass dieser Arzneimittelpass auch auf einer Chipkarte hinterlegt sein könnte, war der nächste Schritt. Die Karte, so der Gedanke, könnte zum Schlussstein einer elektronischen Vernetzung aller Akteure im Gesundheitswesen werden. Per Gesetz wurde dann der 1. Januar 2006 als Startzeitpunkt festgelegt. Doch kam es durch technische und organisatorische Probleme und auch durch Skepsis vor allem der Ärzte immer wieder zu Verzögerungen. Aus den Testregionen kamen zudem Rückmeldungen, dass die Abläufe rund um die Karte noch nicht praxistauglich seien: Patienten hatten Schwierigkeiten, sich das Passwort zu merken, und das elektronische Rezept erwies sich nicht als praxistauglich.

Dann kam der Regierungswechsel und mit Philipp Rösler (FDP) kam eine Partei ins Bundesgesundheitsministerium, die der Einführung der Karte immer besonders skeptisch gegenübergestanden hatte. Rösler wollte nach seinem Amtsantritt zunächst Zeit gewinnen, um das Projekt zu überprüfen, das ja in den Jahren zuvor nicht so erfolgreich vorangekommen war. Die Verwirrung begann.

Die Regierung setzt weiter aufs Zwiebelschalen-Modell

Mittlerweile klären sich die Fronten - teilweise. Im November rief das Bundesgesundheitsministerium ein Moratorium für die eGK aus. Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" hat eine Sprecherin des Ministeriums jetzt präzisiert, worauf sich das Moratorium eben nicht bezieht: auf den Basis-Rollout. Die Regierung setzt bei der Ausgabe der Karten - mit Funktionen, die kaum über die der alten Versichertenkarte hinausgehen - weiter auf das so genannte Zwiebelschalen-Modell. Also, die Karte soll kommen, sie ist kein Auslaufmodell.

Das heißt, noch 2010 wird die Kartenausgabe voraussichtlich über Nordrhein hinausgehen, zunächst in angrenzenden Regionen, also Westfalen-Lippe und Rheinland-Pfalz, später könnten weitere folgen.

Bisher fehlen allerdings die Voraussetzungen dafür: Noch gibt es keine Beschlüsse darüber, wie hoch die Zuschüsse der Krankenkassen für die Anschaffung der Kartenlesegeräte an die Ärzte sein sollen. In Nordrhein hatten die Zuschüsse letztlich dazu geführt, dass sich fast siebzig Prozent der Vertragsärzte bis Ende Oktober Kartenlesegeräte angeschafft haben. Wann in den Nachbarregionen die Verhandlungen über die Zuschüsse beginnen, ist noch nicht bekannt.

Minister Rösler hat mittlerweile auch klargestellt, auf welche Funktionalitäten der Karte sich das Moratorium des eGK-Projektes bezieht: auf das E-Rezept und auf die praxisübergreifende elektronische Patientenakte. Damit ist auch die ursprüngliche Idee, einen Arzneipass auf den Chip zu bringen, vorläufig auf Eis gelegt. Dem Minister geht es nach eigenem Bekunden darum, dass die Industrie zunächst noch einmal die Sicherheit der Anwendungen nachweist.

Die Reaktionen darauf sind unterschiedlich. Ärzteorganisationen und auch die Krankenkassen können sich mit der neuen Lage offenbar gut arrangieren. Besonders bei den Ärzten stößt die Strategie des Ministers auf Zustimmung: "Unreife und alltagsuntaugliche Anwendungen dürfen nicht eingeführt werden", schreibt beispielsweise Dr. Franz-Joseph Bartmann, der Telematikbeauftragte der Bundesärztekammer in der BÄK-Publikation "IT Kompakt". Bartmann spielt damit unter anderem auf das elektronische Rezept an, das vor allem zu Beginn in Praxen der Testregionen zu großen Verzögerungen im Ablauf geführt hat. Auch die Ärztetage hatten ja immer wieder Beschlüsse gefasst, die Karte in der bisherigen Form sei abzulehnen.

Die Hersteller fürchten um ihre Entwicklungskosten

Die Industrie verweist dagegen auf die Fortschritte im Projekt. Die Testergebnisse seien am Anfang nicht zufriedenstellend gewesen, räumt Telematik-Experte Dr. Pablo Mentzinis vom Anbieterverband BITKOM ein. Doch habe man mit der Stapel- und der Komfortsignatur mittlerweile einiges erreicht. Nach BITKOM-Angaben stehen bei den Herstellern 340 Millionen Euro Entwicklungskosten auf dem Spiel.

Wo geht die Reise im Jahr 2010 hin? Es gibt viele Optionen, doch nach wie vor gilt der alte Paragraf, der klar festlegt, wie die Karte auszusehen hat und wie der Datenschutz gewährleistet werden soll. Noch steht das ursprüngliche Modell einer Online-Vernetzung über eine durch die neue Karte gesicherte TelematikInfrastruktur. Tragfähige Alternativen sind noch nicht wirklich in Sicht.

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